Serge Daneys »Von der Welt ins Bild«

Kritik der visuellen Kultur

Der französische Filmkritiker Serge Daney schlägt vor, nicht von der Macht der Bilder zu sprechen, sondern die Macht über die Bilder zu bedenken.

Dass das Kino - von Griffith zu Rossellini, von Ford zu Bresson - eine Geschichte hat, an der sich arbeiten lässt, war die Entdeckung, mit der die Nouvelle Vague anhob. Dass angesichts neuer Formen der Bildgewinnung mit dieser Geschichte vielleicht schon wieder Schluss sein könnte, ist die Ahnung, der, eine Generation später, die Texte des französischen Kritikers Serge Daney nachgehen. Entstanden sind die »Augenzeugenberichte eines Cinephilen«, so der Untertitel des jetzt in deutscher Übersetzung vorliegenden Aufsatzbandes »Von der Welt ins Bild«, in der Zeit zwischen den frühen Siebzigern und 1992, dem Jahr, in dem Daney starb; in einer Zeit also, in der man wohl oder übel begreifen musste, dass das Kino seiner höchsten Bestimmung nach aufgehört hat, für uns ein Gegenwärtiges zu sein, wie ein auf Hegel anspielendes Diktum Friedrich Kittlers lautet.

Das Denken kann aber auch anders: Ohne süffisanten Triumphalismus verschreibt sich Daney der Liebe zu einer verlorenen Sache und bleibt doch geistesgegenwärtig. Verloren deshalb, weil von den Hoffnungen, die früher auf die Gedanken entfesselnde Kraft der Massenkunst Kino gerichtet waren, kaum mehr geblieben ist als der »Festivalfilm für ein universelles cinephiles Publikum, der sich letztendlich auf derselben Ebene wie die anderen modernen Künste befindet: im Museum«. Geistesgegenwärtig deshalb, weil Daney sich nicht auf Filmkunst beschränkt hat. Seine Erfahrungen mit dem Kino kommen gerade auch dort ins Spiel, wo er die Umgebung anderer Medien aufsucht.

Als Kritiker für Libération begleitet er mehrere Jahre das Fernsehprogramm. Für ihn ist das Fernsehen so etwas wie der Inbegriff des »Antibilds«, was aber noch lange kein Grund ist, sich mit einer abstrakten Gegenüberstellung zu beruhigen. Selbst wenn Unlust oder Ekel nicht ausbleiben - die Gegenwart, die aktuellen Bilder, erhalten ihre Chance, die Erinnerung an das, was das Kino einmal war, aufzustören. Also kein Kinomythenmuff, sondern: Glanz und Elend der Kulturindustrie zusammen sehen! »Es ist die Montage, die uns sehen lässt«, zitiert Daney Godard, um dessen Vorstellung dann gleich anzuwenden: »Es gibt amerikanische Filme aus den fünfziger Jahren, die, im Fernsehen wiedergesehen, wie ein hocheleganter Trailer dessen wirken, wovon wir die seichten Folgen kennen.«

Visueller Konsum, die Verwertung der Welt im Bild unter den Bedingungen eines kapitalistischen Differenzindividualismus - vielleicht hat Daney das zu seinem großen Thema gemacht, weil es sich um etwas handelt, das sich im Kino aufdrängt, aber eben auch aus ihm herausführt. An den Produkten des »Visuellen« - sein Label für die heute vorherrschende Art von Bildern - fällt eine eigentümliche Starre auf.

Da gibt es »die unbewegliche Gestalt, das soziologische Emblem, das lebendige Logo, den anbetungswürdigen oder bloß beneidenswerten Körper« - und sie alle haben anscheinend dem Anspruch von vornherein abgeschworen, vor unseren Augen eine eigene Dauer oder Dichte zu entfalten. Sie verstehen es, einen anzusprechen, klar, aber man merkt ihnen auch an, dass der Blick, lange Zeit Lieblingsobjekt avancierter Filmtheorie, hier eigentlich nicht mehr besonders gefragt ist. Statt wirklich gesehen, wollen die Produkte des Visuellen lieber gleich in ihrer viel, nämlich Gesellschaftlichkeit versprechenden Existenz konsumiert werden.

Sind diese Manifestationen kapitalistischer Sinnlichkeit deshalb so rätselhaft vorbildlich, weil sie so tun, als könnten sie sich selbst genug sein? Jede für sich eingeschlossen im Bannkreis ihrer eigenen Formel, Marke, Serie, schaffen sie es aber trotzdem, die Welt zu bedeuten. Die hier in jedem Fall eine Welt der Waren ist, in der sich dann die Werber und Marktforscher als die kreativen Allesblicker aufspielen können.

Zu denken hat Daney etwa die auf eine Schockästhetik setzende Benetton-Kampagne Anfang der neunziger Jahre gegeben. Statt sich das Grenzüberschreitungsgetue mit Sarkasmus bloß vom Leib zu halten, spielt er mit mimischer Begabung, die der Übersetzung ins Deutsche einiges abverlangt, auf ein paar Seiten die verschiedenen Einstellungen durch, mit denen so eine Kampagne bei ihrem Publikum zu rechnen scheint. Hat das eigentlich schon mal jemand vorher versucht: Schreiben, um zu sehen, was die Bilder in uns sehen? Bilder, an denen damals eine neue Verbindung von Freiheit und Dienstbarkeit auffiel. Als ob Werbung jetzt ganz scharf darauf wäre, sich aus der Produktbindung zu befreien, um direkt der »sozialen Kommunikation« - und das heißt immer noch: »der gelebten Ideologie« - zu dienen.

Wäre es so, dann gäbe es tatsächlich keine gesellschaftliche Kraft mehr, die einen besseren Draht zur Welt der Wunsch- und der Moralvorstellungen hätte als eben die Werbung. Die ganze Skala von »Will ich haben« über »Find' ich richtig« bis »Macht mir Angst« in permanenter Aktualisierung - und der durch diesen Dauertest auf dem Laufenden gehaltene Markt müsste bloß sehen, wie er hinterherkommt.

Eine reichlich abgefahrene Vorstellung, zu der Daney aber selber das politisch gebotene Kontrastprogramm liefert. »Die Information ist wieder Chefsache«, beginnt sein Text zur medialen Verwertung des Golfkriegs. Die Bilder, mit allem, was von der Herstellung bis zum Empfang dazu gehört, können nämlich sehr dumm dastehen, wenn es nicht um Märkte, die erforscht oder stimuliert werden sollen, sondern um eine Staatengemeinschaft geht, die Krieg führt.

Weil im höheren Interesse dafür gesorgt wurde, dass Bilder vom Ort des Geschenens kaum etwas zu melden hatten, könnte man ihnen zugute halten, sie seien ein nicht zu unterschätzender Störfaktor. Haben die Amerikaner den Vietnamkrieg nicht auch zu Hause, wegen der Bilder im eigenen Fernsehen, verloren? Und wenn schon; für die Zukunft, die für Daney mit dem Golfkrieg angefangen hat, dürfte sich diese legendäre Frage ohnehin erledigt haben.

Wenn neue Formen der Visualisierung - Stichwort: Computerspiel - die alles in allem doch zu unzuverlässigen Kriegsbilder ersetzen, gibt es nur noch »ein realistisches Bild, aber nicht des Krieges (dafür braucht man zwei Seiten), sondern des Sieges«. Man könnte meinen, hier würde bloß das Fehlen einer ausgewogenen Berichterstattung beanstandet. Falsch! Denn die Information soll nicht das letzte Wort behalten und dem Bild übergeordnet werden.

Und deshalb ist die entscheidende Frage auch nie, welcher Information kann ich trauen, sondern eher, welches Bild hat die Kraft, mich zu bewegen? Zugegeben, das ist eine riskante Zuspitzung, denn gefragt wird bei Daney nach den Ausnahmeerscheinungen, die sich der Selbstgenügsamkeit der Bilder gerade widersetzen. Selbstgenügsam, das sind die kontrolliert gleichgültigen Bilder, die die Wirklichkeit - ja, genau die, nämlich Körper, Landschaften und was es sonst noch gibt - so aussehen lassen, als sei sie nur dazu da, das zu bestätigen, was man in ihr sehen soll.

Der Normalfall also, dem auch die folgende Feststellung gilt: »Noch nie hat man so viel von der 'Macht des Bildes' gesprochen, wie seit der Zeit, in der das Bild keine mehr hat.« Da wird, der öden Leier von der Bilderflut widersprechend, der Vorschlag gemacht, mehr an die Macht über die Bilder zu denken. Und bei dem, was es dagegen an Widerstand gibt, muss Daney dann doch wieder vor allem an das Kino denken.

Da scheint die Idee eines kinematographischen Realismus durch, denn Bilder in diesem Sinn bleiben immer zweiseitig. Kunstprodukt und lebendige Spur, etwas Eigenes und doch durchdrungen von den Umständen, unter denen es aufgenommen wurde: von Licht-, Raum-, Körper- und Machtverhältnissen.

Eine Kritik der visuellen Kultur kann von diesen Texten viel lernen. Angenommen, sie fühlt sich nicht ohnehin in irgendwelchen Interpretationsfertigbauten oder Ironiefallen ganz wohl, kann sie sich weniger denn je damit begnügen, die Bilder gegen das, was man in ihnen sehen soll, auszuspielen. Dass diese Differenz nur noch schwache Spannungen hervorruft, führt einem das Mainstreamkino vor. Die Bilder wissen über ihre verschiedenen Bedeutungsschichten schon zu gut Bescheid, als dass es da noch viel zu tun gäbe.

Vielleicht war Daney einer der ersten, der das verstanden und deshalb angefangen hat, das Verhältnis andersherum zu betrachten. Denn was die Bilder in uns sehen, darüber wissen wir noch sehr wenig.

Serge Daney: Von der Welt ins Bild. Augenzeugenberichte eines Cinephilen. Hg. von Christa Blümlinger. Vorwerk 8, Berlin, 287 S., DM 38