Krise in Berlin

Menetekel Posemuckel

Nach dem Mauerfall orientierte sich die Hauptstadtplanung nicht an den Bewohnern, sondern an denen, die man gerne als Bewohner hätte. An diesem Leitbild messen die Medien nun auch den rot-grünen Senat.

Ist es schon so weit? Barrikadenkämpfe im Zeitungsviertel? Rote Fahnen über dem Springer-Hochhaus? Am Tag nach dem Bruch der großen Koalition wartete die Berliner Morgenpost auf Seite eins mit einem Lenin-Zitat auf: »Einen Fehler zuzugeben, seine Ursachen aufzudecken, die Umstände, die ihn hervorgebracht haben, analysieren, die Mittel zur Behebung des Fehlers sorgfältig prüfen - das ist das Merkmal einer ernsten Partei.«

Es herrscht offenbar Verwirrung im Hause Springer. Fast 20 Jahre lang hat man die Berliner CDU an die Macht geschrieben, über Filz und Skandale geflissentlich hinweggesehen, und dennoch war das Misstrauensvotum gegen den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen nicht aufzuhalten. Auch die B.Z. schien zunächst hilflos. Am Tag nach dem Koalitionsbruch hieß der Aufmacher: »Katzen zu Rheumadecken verarbeitet« - eine rührselige Geschichte über Tierklau in der Hauptstadt (»Hunde werden in den Osten verhökert«). Eine Methode, die an das Neue Deutschland zu DDR-Zeiten erinnert: Was nicht sein darf, wird auch nicht gedruckt. Am Tag darauf aber hatte sich B.Z.-Chefredakteur Georg Gafron schon wieder im Griff. Seitdem schreibt er wieder gegen die Regierungsbeteiligung der »Kommunisten« in täglichen Kommentaren an.

Doch anders als 1989, als die Springer-Presse die rot-grüne Koalition in Berlin mit gezielten Kampagnen in die Enge trieb, stellt die B.Z. vorerst keine Gefahr für den neuen Senat dar. Dazu ist der Bankrott der CDU zu offensichtlich, und die Koalitionäre sind besser vorbereitet. Das Hauptproblem ist nicht Springer, sondern der öffentlich-rechtliche TV-Journalismus und der Metropolendiskurs des Feuilletons.

Von Klaus Bresser über Sabine Christiansen bis zu Petra Lidschreiber trieb ARD und ZDF in den vergangenen Tagen die immer gleiche Frage um: Ist die PDS trotz ihrer Vorgeschichte und der Kommunistischen Plattform schon koalitionsfähig? Der TV-Journalismus erweist sich als lernunwillig. Die Erfahrung mit den Grünen, wonach eine Regierungsbeteiligung der beste Weg zur vollständigen Integration einer Partei ins parlamentarische System ist, wird genauso ignoriert wie der unumkehrbare Wandel der PDS zu einer sozialdemokratischen Partei.

Elf Jahre haben ARD und ZDF brav die üblichen Klischees abgefilmt, wenn es galt, einen PDS-Beitrag zu bebildern: den großen Vorsitzenden Gregor Gysi, Sahra Wagenknecht von der Kommunistischen Plattform und die Basisrentner. Interviews mit den realpolitisch orientierten Mandatsträgern aus der zweiten Reihe wurden meistens vermieden.

Es blieb der Zeit vorbehalten, darauf hinzuweisen, dass es sich bei den Debatten zwischen Reformern und Traditionalisten in der PDS um eine ganz normale Auseinandersetzung innerhalb linker Parteien handelt, ähnlich der zwischen SPD-Parteiführung und Jusos in den siebziger Jahren. Die Differenzierungsfähigkeit des deutschen TV-Journalismus jedoch versagt links von der Schröder-SPD. Ähnlich wie ARD und ZDF bis heute jeden grundsätzlichen Konflikt der Grünen zum Kampf zwischen »Realos« und »Fundis« erklären - zehn Jahre nach dem Austritt der letzten »Fundamentalisten« - so werden Christiansen und andere jede Weigerung der PDS, sich an die Verhältnisse anzupassen, als Rückfall in DDR-Nostalgie interpretieren und die Partei damit in Richtung Neue Mitte vor sich hertreiben.

Nachfragen, was die neue Berliner Koalition denn bewirken möchte, mussten hinter den Diskussionen über PDS-Vergangenheit und Berliner Filz zurückstehen. Ob die neue Koalition lediglich die kapitalistische Modernisierung der Berliner Strukturen oder größere gesellschaftliche Gerechtigkeit als Ziel verfolgt und wo eine mögliche Kompromisslinie zwischen beiden Zielen liegt, wissen bis jetzt nicht einmal die beteiligten Parteien selbst. Das Berlin-Bashing, das in den letzten Wochen das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung durchzog, liefert einen Vorgeschmack auf die kommenden Auseinandersetzungen.

Dort mischt sich die Kritik an einer »mediokren Oligarchie, Gestalten, die nur hier etwas werden konnten, da die alten Eliten aus der Stadt geflohen oder tot waren«, mit der Beschwerde über das »Sozialbiotop Kiez, das der zumeist aus dem Süden zugereiste Autonome im geheimen Bündnis mit dem Eckkneipen-Berliner verteidigt«, und die »militante Kleinbürgermentalität, die sich ihre Weltoffenheit mit multikulturellen Grillfesten im Tiergarten unter Beweis stellt«. Es sind die Klagen eines (Möchtegern-) Großbürgertums über das nach wie vor kleinbürgerlich-proletarisch geprägte und daher als provinziell geltende Berlin. Eine Auseinandersetzung mit Tradition, die sich als Teil der Lösung ausgibt und doch ein Teil des Problems ist.

Es war im April 1991, als Edzard Reuter, damals Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG, das Wort von Berlin als »Posemuckel« prägte, weil sich der vom Stadtentwicklungssenator Volker Hassemer (CDU) favorisierte Entwurf für den Potsdamer Platz an der Berliner Traufhöhe statt an der von Daimler geforderten repräsentativen Hochhausbebauung orientierte. Jede Kiez-Initiative, so klagte Reuters Generalbevollmächtigter Matthias Kleinert im Tagesspiegel, werde in Berlin besser behandelt als ein Weltunternehmen. Dass der rot-grüne Senat das Grundstück am Potsdamer Platz weit unter seinem tatsächlichen Wert an Daimler verkauft hatte, war da schon vergessen.

Fortan war die öffentliche Debatte vom Menetekel »Posemuckel« bestimmt, und die Baupläne des am Samstag abgesetzten Senats, die mitverantwortlich für die Milliardenschulden der Stadt sind, hatten durchweg unangemessene Dimensionen. Nach dem Mauerfall orientierte sich die Berliner Stadtplanung nicht mehr an den Bewohnern, sondern an denen, die man gerne als Bewohner hätte - hochqualifizierte Fachkräfte, die dem kleinbürgerlichen Berlin ein Ende bereiten sollen. Wie metropolitan die Verfechter der Metropolen-Debatte wirklich denken, lässt sich am Potsdamer Platz besichtigen: Es ist der einzige Ort Berlins, dessen Straßen so eng sind, dass sie »Gassen« heißen.

Da aber von einem Senat unter dem SPD-Mann Klaus Wowereit schon in Anbetracht der Haushaltslage nicht viel zu erwarten ist, muss man auf die Berliner Morgenpost setzen. Gerüchten zufolge plant man im Springer-Hochhaus mit einem Mao-Zitat den Regierungsantritt Gysis zu begrüßen: »Mit dem Sieg können in der Partei Stimmungen aufkommen wie Hochmut, Pochen auf alte Verdienste und Abneigung gegen die Fortführung eines harten Lebens. Weil wir den Sieg errungen haben, wird uns das Volk dankbar sein, und auch die Bourgeoisie wird hervortreten, um uns zu schmeicheln. Dass uns der Feind mit Waffengewalt nicht unterkriegen kann, ist bereits bewiesen worden. Doch mit Schmeicheleien kann die Bourgeoisie die Willensschwachen in unseren Reihen zu Fall bringen.«