Der Aufstand in Algerien weitet sich aus

Revolte oder Revolution?

fragte die algerische Tageszeitung Liberté vergangene Woche. Das brutale Vorgehen von Polizei und Militärs, das alte Familiengesetz sowie die Privatisierung eines Strandes - alles wird in Algerien in Frage gestellt.

Wie viele sind gekommen: 500 000? Oder eine Million? Niemand kann es genau sagen. Eine unüberschaubare Menschenmenge jedenfalls war es, die sich am vorigen Donnerstag in Algier zu einem kilometerlangen Protestzug formierte. Zwischen Tausenden Demonstranten und den staatlichen Repressionskräften kam es zu schweren Zusammenstößen. Viele Protestierende versuchten, zum Stadtteil El-Mouradia durchzubrechen, um dem Präsidenten Abdelaziz Bouteflika ihre Forderungen zu übergeben. Es gelang jedoch nicht. Die Polizei schoss zum Teil mit scharfer Munition und setzte große Mengen Tränengas ein. Mindestens zwei Personen, ein algerischer Journalist und eine Journalistin, wurden getötet. Sie geriet im Gedränge unter einen Bus und wurde überfahren, er wurde bei einer Massenpanik zu Tode getrampelt. Mindestens 400 Personen wurden bei den Auseinandersetzungen verletzt.

Die zentrale Demonstration der aufständischen Bewegung war ursprünglich für den 25. Juni oder 5. Juli geplant gewesen, angesichts der breiten Mobilisierung verlegten die Veranstalter den Termin jedoch nach vorne. Diesen Beschluss fassten eine Woche zuvor die Koordinationsgruppen von sieben algerischen Verwaltungsbezirken, die sich auch auf eine Plattform mit drei Forderungskatalogen geeinigt hatten. Diese richtet sich »gegen die Unterdrückung und die Straflosigkeit der Verantwortlichen« und verlangt nach staatlichen Unterstützungszahlungen für alle »Opfer der Repression während der jüngsten Ereignisse«, die nach offiziellen Angaben bisher rund 55, tatsächlich aber wohl um die 100 Todesopfer gefordert haben. Ferner sollen die Schuldigen vor Gericht gestellt und die Gendarmerietruppen aus den Unruheregionen abgezogen werden.

Zum zweiten geht es um Forderungen nach demokratischen Rechten. Neben der Anerkennung der Berber-Sprache Tamazight stehen auch die Abschaffung des reaktionären Familiengesetzes, die Gleichberechtigung von Männern und Frauen und die Aufhebung des seit 1992 geltenden Ausnahmezustands auf dem Papier. Der dritte Teil schließlich besteht aus sozialen und ökonomischen Forderungen, beispielsweise nach einem Sofortprogramm für Entwicklung, der Umwandlung von Wohnraum für Privilegierte in Sozialwohnungen und nach Einführung eines Arbeitslosengelds in Höhe von 50 Prozent des Mindestlohns.

Vor allem die Forderung nach Abschaffung des stockreaktionären Code de la famille führte in den Tagen vor der Demonstration zu scharfen Konflikten zwischen linken Kräften und traditionalistischen Milieus, die etwa in der Koordinationsgruppe von Tizi-Ouzou - einer der beiden Regionalhauptstäde der berbersprachigen Kabylei - vertreten sind. Die Plattform wurde aber am Ende aufrechterhalten.

Mit der Demonstration in Algier hat die Protestbewegung, die seit Ende April vor allem die rund 100 Kilometer nordöstlich der Landeshauptstadt gelegene Kabylei erschüttert, einen neuen Höhepunkt erreicht. In den Vorwochen hatten bereits Hunderttausende in den beiden kabylischen Regionalhauptstädten Tizi-Ouzou und Bejaia demonstriert. Diesmal war eine große Zahl von Demonstranten mit Bussen, Autos und Zügen aus der Kabylei herbeigereist.

Aber auch einige gesellschaftliche Bereiche in der Hauptstadtregion, dem Algérois, sind in Bewegung gekommen. In den sehr aktiven studentischen Koordinationsgruppen sind Berichten zufolge 80 Prozent der Delegierten junge Frauen, die ganz besonders unter dem repressiven gesellschaftlichen Klima der letzten Jahre zu leiden hatten. Für den vergangenen Dienstag hatte ein autonomes Kollektiv der Medizinstudenten von Algier eine Demonstration geplant, die sich vor allem gegen die Repression richten sollte. Der Marsch wurde verboten und von der Polizei unterbunden.

In Dely-Brahim, auf den Höhen von Algier, wendet sich eine Koordinationsgruppe in den Studentenwohnheimen gegen das Vorhaben der Behörden, die Bewohner in den kommenden Wochen auf die Straße zu setzen, um im Sommer Teilnehmer der Weltfestspiele der Jugend unterzubringen. Die realsozialistische Traditionsveranstaltung, die früher in osteuropäischen Staaten, in Nordkeorea oder in Kuba stattfand, wird in diesem Jahr von Algerien ausgerichtet. Die protestierende Jugend der Kabylei fordert seit längerem ihren Boykott.

Gelingt es den Revoltierenden, den Aufstand über die Kabylei hinauszutragen? Mittlerweile ist es auch in anderen Landesteilen zu sozialen Spannungen und Zusammenstößen mit der Polizei gekommen. Vor einer guten Woche begann der Protest auf die Region um Batna im Zentrum des Berglands Les Aurès überzugreifen. Die Aurès sind eine zwar bitterarme, doch traditionell regimefreundliche und konservative Region. Zahlreiche hohe militärische Würdenträger kommen aus dieser Gegend und verfügen hier über entsprechenden Einfluss. Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1962 hatte dieses Gebiet stets als »ruhiges Hinterland« des Regimes und als »Wiege der Macht« gegolten - neben dem Raum Constantine, aus dem ebenfalls zahlreiche Generäle stammen.

Am vorletzten Donnerstag fanden hier jedoch Solidaritätskundgebungen für die Bewohner der Kabylei statt, rund 5 000 Demonstranten zogen durch Batna. Am folgenden Sonntag kam es zu Konflikten zwischen Jugendlichen und den Militärs einer Garnison, die nahe der Kreisstadt Khenchela rund 100 Kilometer vor der tunesischen Grenze liegt. Die jungen Leute stellten einen Unteroffizier zur Rede, dem vorgeworfen wurde, Mädchen auf der Straße aggressiv anzumachen und zu provozieren. Er antwortete mit arroganten Sprüchen und erhielt eine Tracht Prügel. Auf Rache sinnend, kehrte der Unteroffizier an der Spitze von 40 in Zivil gekleideten, aber bewaffneten Soldaten zurück, um auf Strafexpedition zu gehen.

Aber die Militärs können sich nicht mehr so leicht herausnehmen, was ihnen gefällt. Rund 1 000 meist junge Leute zogen los, als die Staatsrepräsentanten ihre Forderung nach der Identifizierung der Verantwortlichen und der Schließung der nahen Offiziersschule nicht anhören wollten. Die Revoltierenden errichteten Barrikaden und griffen öffentliche Gebäude an. Rathaus, Präfektur und Finanzamt wurden abgefackelt. Allein am Sonntagabend und Montagmorgen gab es 35 Verletzte, unter ihnen sechs Polizisten; eine Frau wurde auf ihrem Balkon von einem Querschläger getötet.

Innenminister Yazid Zerhouni hielt die Ereignisse für so schwerwiegend, dass er am Dienstag vergangener Woche nach Khenchela eilte, um die Lage zu beruhigen. In einer freien Aussprache mit den Bürgern in einem Saal der Präfektur, vor dem sich Tausende von Zuhörern drängten, musste er sich anhören, was Jung und Alt zu kritisieren hatten: die Privilegien der neureichen Mafia, die Arroganz, den zur Schau gestellten Luxus. Zerhouni blieb nur übrig, mit ernster Miene »tiefgreifende Reformen« zu versprechen.

In Staouali, einer kleineren Stadt am westlichen Rand des Großraums Algier, wurde vor gut zwei Wochen im Rathaus beschlossen, einen öffentlich zugänglichen Strand zu versteigern. Bis auf zwei Abschnitte war bereits die gesamte Küste zugunsten der Residenzen von Militärs und Staatsbürokraten sowie einiger Luxushotels privatisiert worden. In Staouali hatte es bereits im Sommer 2000 Zusammenstöße zwischen jungen Leuten und der Polizei gegeben, weil die Sicherheitskräfte Liebespaare aus der Öffentlichkeit verbannen wollten - ein Anzeichen für die schleichende islamistische Durchdringung von Teilen des Staatsapparats. Für Freitag dieser Woche ruft ein Interkommunales Komitee von Staouali dazu auf, sich ab 10 Uhr an einer Non-Stop-Demonstration zu beteiligen und die Rückgabe der Strände des Club des Pins - in diesem Luxusquartier haben die führenden Generäle des Landes ihre Residenzen - und »ihre Öffnung für alle Bürger und alle Bürgerinnen, Tag und Nacht« zu fordern.

Die Titelblätter der algerischen Tagespresse vermitteln einen Eindruck von der Stimmung, die im Lande herrscht. Die französischsprachige Tageszeitung Liberté fragte am Mittwoch gar: »Algerien: Revolte oder Revolution?«