Prozess gegen die Chemie-Industrie

Fahrlässig vergiftet

In einem Prozess gegen die italienische Chemie-Industrie fordern die Ankläger insgesamt 185 Jahre Haft.

Welchen Preis hat der industrielle Fortschritt im Plastikzeitalter? Der römische Ökonom Paolo Leon errechnete allein für den Chemiestandort von Porto Marghera bei Venedig die Summe von umgerechnet 71 Milliarden Mark. Diesen Betrag nannte ein Anwalt des italienischen Staates, der im laufenden Prozess gegen die Petrochemiekonzerne Eni, Montedison, Enimont und Enichem als eine von mehreren Klägerparteien auftritt, in seinem Plädoyer.

So viel soll die Sanierung der Umweltschäden auf dem venezianischen Festland und in der Lagune kosten, die der auf der Basis des monomeren Vinylchlorids (MVC) operierende Produktionszyklus in vier Jahrzehnten verursacht hat. Aus diesem hochtoxischen und krebserregenden Material wird der thermoplastische Kunststoff PVC gewonnen.

Seit drei Jahren wird nun in Mestre gegen Verantwortliche der italienischen Chemie-Industrie verhandelt. Die Anklage lautet auf Industriekriminalität und Massenmord. Denn die Chemiebosse haben nicht nur im Umgang mit der Umwelt fahrlässig gehandelt, indem sie mit den bei der Verarbeitung des MVC anfallenden Rückständen ungehemmt Luft, Wasser und Boden verpesteten. Sie nahmen auch auf die Gesundheit ihrer Arbeiter keinerlei Rücksicht.

Obwohl spätestens seit 1972 bekannt war, dass bei der chemischen Gewinnung von Plastik aus Erdöl krebserregende Dämpfe entstehen, wurden bis in die achtziger Jahre kaum ausreichende Sicherheitsvorkehrungen am Arbeitsplatz getroffen. Stattdessen wurde der Ausstoß kontinuierlich erhöht. Heute liegt Italien, trotz der Umstrukturierung des Chemiesektors und der weltweiten Absatzkrise, in der Produktion des MVC und seiner Derivate immerhin auf dem vierten Platz der Weltrangliste. In Porto Marghera sind immer noch ein paar MVC-Anlagen in Betrieb, die im Jahr 240 000 Tonnen des Kunststoffs produzieren.

Ein bösartiges Gefäßgeschwür ist nur eine der schrecklichen Folgen, die der ungeschützte Umgang mit chlororganischen Verbindungen mit sich bringen kann. Als der bei Montedison beschäftigte Arbeiter Gabriele Bortolozzo eines Tages feststellte, dass einer seiner ehemaligen Arbeitskollegen an Krebs verstorben war, wollte er den nächsten der einst aus sechs Kollegen bestehenden Arbeitseinheit seiner MVC-Abteilung aufsuchen. Doch der war mittlerweile an Kehlkopfkrebs gestorben. Bald wurde Bortolozzo klar, dass er der einzige Überlebende der Gruppe war.

Er begann eine folgenreiche Untersuchung über den Zusammenhang zwischen den Produktionsbedingungen und den Todesursachen seiner ehemaligen Kollegen. Als seine Umfragen die erschreckende Anzahl von 149 verstorbenen und über 500 an Krebs erkrankten Arbeitern zutage brachten, wandte er sich an die Vereinigung demokratischer Mediziner, die nach dem Chemieunglück von Seveso gegründet worden war. Im Sommer 1994 wurde sein Bericht in der Zeitschrift Medicina Democratica abgedruckt.

An einem solchen Engagement sollte eigentlich auch den Gewerkschaften gelegen sein. Doch dass ihnen das Recht auf Beschäftigung mehr am Herzen liegt als die Gesundheit der Beschäftigten, konnte man bald an ihrer Reaktion erkennen. So diffamierte die Chemiegewerkschaft FULC Bortolozzo als einen von der ausländischen Konkurrenz bezahlten Agenten, der mit seiner Untersuchung der italienischen Industrie schaden wolle.

Die Ermittlungen des Staatsanwalts Casson waren jedoch nicht mehr aufzuhalten. Am 13. März 1998 wurde der von 563 Klägern angestrengte Prozess gegen die Leitung des führenden italienischen Chemiekonglomerats in Mestre eröffnet. Bereits einige Wochen nach Prozessbeginn legten die Konzernherren ein erstes Eingeständnis ihrer Schuld ab und boten an, umgerechnet 60 Millionen Mark Entschädigung an die Hinterbliebenen der MVC-Opfer zu zahlen.

Viele nahmen den Vergleich an, da sie nicht, wie in den Fällen Vajont und Seveso, ein Leben lang auf die Auszahlung warten wollten. Neben dem italienischen Staat, lokalen Behörden, Gewerkschaften und Vereinigungen wie den demokratischen Medizinern hielten zuletzt noch fünfzehn Personen ihre Klagen aufrecht, darunter auch die Söhne von Gabriele Bortolozzo, der 1995 bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam.

Im Prozess kamen die Exzesse der Vergangenheit zur Sprache, der gesundheitsschädliche Produktionsprozess, die giftigen Gaswolken, die illegalen Giftmülldeponien und -transporte, die Einleitung toxischer Abwässer in die Lagune, die Verseuchung des Grundwassers. 500 000 Tonnen eines Giftcocktails aus Dioxinen, Blei, Quecksilber und Arsen haben eine der schönsten Lagunen Europas zerstört. 80 Millionen Kubikmeter Industrieabfälle, das entspricht dem doppelten Fassungsvermögen der Lagune, wurden einfach ins Meer gekippt. Fünf Millionen Kubikmeter wurden an Land deponiert. Als man vor zwölf Jahren die Giftmülldeponien auf dem Betriebsgelände entdeckte, schritt der Konzern zur Schadensbegrenzung, indem einfach eine Deponie planiert und mit Asche bedeckt wurde. Anschließend wurde darauf ein Hubschrauberlandeplatz für den damaligen Manager Raul Gardini angelegt.

Angesichts der erzielten Profite betrachteten die wechselnden Betriebsleitungen die zahlreichen Tumorerkrankungen in der Belegschaft lediglich als Kollateralschäden. Es gab Absprachen zwischen den einzelnen Chemiefirmen, das Risiko MVC totzuschweigen. Die Organisation der Arbeit durfte nicht infrage gestellt werden. Deshalb bescheinigte man den betroffenen Arbeitern fälschlich ansteckende Krankheiten und ließ sie hinsichtlich der Gefährlichkeit ihres Arbeitsgegenstands im Ungewissen.

Wer die luft- und dampfdicht verschließbaren Fertigungsbottiche von MVC-Rückständen reinigen und das MVC in Säcke abfüllen musste, hatte das Gefühl »wie auf Watte zu gehen«. An manchen Tagen war die Konzentration von Chlorgasen so hoch, dass den Arbeitern, die davon schon einen süßen Geschmack im Mund hatten, nichts anderes übrig blieb, als die Fenster der Abteilung einzuschlagen. Trotzdem wurde kein Geld in weniger riskante Anlagen investiert, und es erging sogar die Anweisung, die alten, hinfälligen Anlagen, um die Produktion nicht zu beeinträchtigen, »so wenig wie möglich zu warten«.

Vor Gericht redeten sich nun hohe Funktionäre der Chemie-Industrie, wie der heute achtzigjährige Eugenio Cefis, der vormalige Präsident von Eni und Montedison, damit heraus, sie hätten keine Kenntnisse über die »delikaten technischen Fragen« des Produktionsprozesses gehabt. Doch je höher die Position in der Unternehmenshierarchie gewesen ist, desto höher fiel die Strafforderung des Anklägers Casson für die hauptverantwortlichen Manager des Chemiepools von Porto Marghera aus.

In seinem Schlussplädoyer hielt er alle 28 Angeklagten der mehrfachen fahrlässigen Tötung und des Umweltfrevels für überführt. Für Eugenio Cefis, Alberto Grandi, den vormaligen Geschäftsführer von Montedison und Vizepräsidenten von Montefibre, sowie den Professor Emilio Bartalini, den Leiter des zentralen Gesundheitsdienstes von Montedison, forderte Casson zwölf Jahre Haft. Alle Angeklagten zusammen sollen, wenn es nach dem Staatsanwalt geht, für 185 Jahre ins Gefängnis.