Transnationales Kapital und Antiglobalisierungsbewegung

Der ambulante Gesamtkapitalist

Das transnationale Kapital kann den Staat nicht ersetzen, obwohl es ihm die Kontrolle über die monetären Prozesse entzieht.

Es wird oft behauptet, die Globalisierung sei gar nichts Neues. Das ist nur insofern richtig, als das moderne warenproduzierende System schon seit dem 19. Jahrhundert vor seinen eigenen Widersprüchen davonläuft. Einerseits entwickelt es schrankenlos die Produktivkräfte, andererseits will es diese Kräfte in die Form des Werts bannen, der durch denselben Prozess entwertet wird. Die aus diesem Widerspruch resultierende Flucht nach vorn treibt das Kapital über die nationalökonomischen Grenzen hinaus und entwickelt gleichzeitig den Finanzkapitalismus, also das Kreditsystem und den Vorgriff auf zukünftige - virtuelle - Profite.

Aber diese von Anfang an wirksame kapitalistische Dynamik entfaltet sich historisch und erfährt dabei nicht nur eine quantitative Steigerung, sondern durchläuft auch qualitativ neue Formen. Im klassischen Finanzkapitalismus des 20. Jahrhunderts wuchs die Bedeutung des Bankkredits, weil die aufgrund der Verwissenschaftlichung explodierenden Vorauskosten der Produktion immer weniger aus dem Cash der Unternehmen zu finanzieren waren. Gleichzeitig ging der Warenexport in den Kapitalexport über, freilich zunächst in relativ geringem Umfang und hauptsächlich in die jeweiligen Kolonien und Einflussgebiete der nationalen Imperien. In dieser Zeit konnte der Staat in den Zentren die Dynamik des Systems noch als nationaler »ideeller Gesamtkapitalist« formieren.

Nach dem Zusammenbruch des Weltmarkts in der Weltkriegsepoche setzte sich die unterbrochene ökonomische Widerspruchsdynamik unter dem Dach der Pax Americana fort. Erst jetzt entfaltete sich der Kapitalexport im großen Maßstab zwischen den zentralen Nationalökonomien selbst, was die alte nationalimperiale Konkurrenz der Staaten obsolet machte.

Vollends aus dem Ruder geriet den Staaten diese Entwicklung, als in der dritten industriellen Revolution der klassische Finanzkapitalismus in das globale System einer transnationalen Börsenkapitalisierung überging. Die Flucht des Geldkapitals vor dem Abschmelzen der realen Wertsubstanz machte die früher bloß zyklische Bildung von Finanzblasen zum strukturellen Dauerzustand; der klassische Bankkredit für das produzierende Realkapital wurde überflügelt vom Investmentbanking eines Fondskapitalismus (Aktien, Devisen etc.).

Das Verhältnis von Realkapital und Finanzkapital hat sich damit auf den Kopf gestellt. Warenproduktion und Warenströme - auch von Investitionsgütern - sind nur noch abgeleitete Funktionen der Börsenkapitalisierung, die als scheinbar tragende Struktur allein in transnationaler Form fungieren kann; der nationale Rahmen wäre zu eng für permanente Umschichtungen nach Kriterien des »fiktiven Kapitals«.

Analog dazu entwickelte sich die reale Warenproduktion. An die Stelle des Kapitalexports nach dem mechanischen Baukastensystem, bei dem ganze Betriebsstätten in verschiedenen Ländern identisch hochgezogen wurden, traten transnationale betriebswirtschaftliche Wertschöpfungsketten, deren Betriebskomponenten weltweit verstreut sind - so z.B. die Produktion in Frankreich, das Marketing in Singapur oder die Betriebsabrechnung in Indien.

Dieser globalisierte Krisenkapitalismus kann nicht mehr nationalökonomisch formiert werden. Dennoch ist das transnationale Kapital nicht imstande, die Polarität von Ökonomie und Politik in sich aufzuheben; es kann den Staat weder als Instanz der bewaffneten Gewalt noch als Garanten des Fetischmediums Geld ersetzen, obwohl es ihm die Kontrolle über die monetären Prozesse entzieht.

Der Staat seinerseits kann den Erfordernissen der über seinen Zugriffsbereich hinausgewachsenen Börsenkapitalisierung nur noch hinterherlaufen; er verwandelt sich aus einem ideellen in einen ambulanten Gesamtkapitalisten.

In der Peripherie hat diese neue Qualität des Widerspruchs bereits zur Zersetzung und mancherorts zur völligen Auflösung des Staatsapparats geführt, sofern er weder die bewaffnete Macht länger finanzieren noch die eigene Währung als nationale Geldform halten kann.

In den Zentren wird der Staat als Nachtwächterstaat der Globalisierung auf den sicherheitsimperialistischen und geldpolitischen Kern der ehemaligen »Souveränität« reduziert. Die entscheidende Rolle kommt dabei den USA als letzter Welt- und Schutzmacht des globalen Krisenkapitalismus mit dem Dollar als Weltgeld zu.

Die so genannte neoliberale Revolution des Weltnachtwächters USA hat in Wirklichkeit den Keynesianismus nicht überwunden, sondern in seine unter den neuen Bedingungen einzig mögliche Form gebracht. In den achtziger Jahren war es der Rüstungskeynesianismus der »Reaganomics«, der mit dem Totrüsten der Sowjetunion nicht nur den Ausgangspunkt für den neuen monozentrischen Sicherheitsimperialismus bildete, sondern als Liquiditätspumpe gleichzeitig auch die Voraussetzungen schuf für die in den neunziger Jahren »selbstpumpende« Finanzblase der New Economy und die davon ausgelöste US-«Wunderkonjunktur«.

Statt abgebaut zu werden, konnten so die globalen Überkapazitäten die reich gerechneten USA mit Waren zuschütten, während der Zustrom globaler Liquidität an die US-Börsen dafür sorgte, dass die US-Ausßenhandelsbilanz mit hohen Überschüssen aus der Besteuerung der Blasenkonjunktur glänzte.

Seit dem Frühjahr 2000 hat der Prozess der Privat- und Unternehmensverschuldung die Börsenkapitalisierung überholt und die globalen Finanzmärkte der New Economy auf Talfahrt geschickt; die automatische Liquiditätspumpe arbeitet nicht mehr. War Bill Clinton der Sunnyboy der Blasenkonjunktur, so muss George W. Bush die versiegende Quelle des »fiktiven Kapitals« und damit der prekären Weltkonjunktur nun wieder mit staatlicher Geldschöpfung nachfüllen. Der Börsenkeynesianismus einer drastischen US-Zinssenkungspolitik soll die erschlafften Finanzmärkte abermals aufpumpen; gleichzeitig kehrt mit der Kündigung der Abrüstungsverträge und dem NMD-Programm der Rüstungskeynesianismus zurück.

Aber Bush kann auf dem erreichten Entwicklungsstand des transnationalen Finanzkapitals nicht ungestraft die »Reaganomics« wiederholen. Die staatlich induzierte Flutung der US-Liquidität wird nicht noch einmal von einer »selbstpumpenden« Finanzblase abgelöst; dafür ist das Verschuldungsniveau inzwischen zu hoch. Die Freude über die rüstungs- und geldpolitisch gerettete US- und Weltkonjunktur wird in den großen Weltkatzenjammer umschlagen, wenn nach einer gewissen Inkubationszeit als Strafe die Inflationierung des Weltgeldes Dollar folgt. Dies wäre nicht Folge einer »falschen Geldpolitik«, weil es gar keine richtige mehr geben kann, sondern vielmehr der lange herangereifte innere Widerspruch, der endlich auch als irreversible Krise des Fetischmediums im Weltmaßstab erscheint.