Transnationales Kapital und Antiglobalisierungsbewegung

Der Markt sind wir!

Die Verbreitung des Keynesianismus unter Gegnern der Globalisierung ist erschreckend. Er muss nun auch zur Vergesellschaftung staatlicher Verluste herhalten.

Wohl nie in den letzten 200 Jahren hat sich die Kapitalismuskritik derart in der Defensive gesehen wie im Zeitalter des Neoliberalismus. Der ungeheuren Beschleunigung des warengesellschaftlichen Zurichtungsprozesses im Übergang vom Fordismus zum Kasinokapitalismus entsprach eine vollkommene Lähmung des gesellschaftskritischen Denkens. Einst zum linken Begriffsrepertoire gehörende Schlagworte wie Bewegung und Revolution sind in den Besitzstand der Gegenseite übergegangen. Bewegung meint nur mehr die entfesselte Dynamik des Kapitals, und nicht emanzipative Kräfte verändern die Welt, sondern die Protagonisten der vielbeschworenen »Globalisierung« machen sie zum Spielmaterial ihres universellen Schneeballsystems.

Mittlerweile scheint der absolute Tiefpunkt überwunden. In den letzten Jahren wurden erste Stimmen vernehmlich, die das unumschränkte Primat der Ökonomie als das bezeichnen, was es ist, als blanken Terror. Seit den Protesten gegen die WTO-Konferenz in Seattle Ende 1999 rührt sich jenseits von Love Parade, sonstigem Kommerz und Faschoauftrieben auch wieder etwas anderes auf der Straße. Der sozial verheerende »Globalisierungsprozess«, der die Linke zunächst weltweit mundtot gemacht hat, wird nun zum zentralen Gegenstand von Protest. So oft sich die diversen internationalen Wirtschafts- und Finanzorganisationen, ob IWF, Weltbank oder dieser Tage in Genua die G 8, ihr Stelldichein geben, sind die Globalisierungsgegner nicht weit.

Die Freude über diese Entwicklung sollte freilich nicht zur Blauäugigkeit führen. Dem, was sich da möglicherweise an neuer Widerständigkeit zusammenbraut, sieht man recht deutlich die lange Paralyse praktischer und theoretischer Gesellschaftskritik an. Der neue Protest ist selbst noch - wie könnte es auch anders sein - von der Epoche gezeichnet, gegen die er sich wendet. Das Schlagwort »Antiglobalisierungsbewegung«, das derzeit die Runde macht, suggeriert viel mehr Kohärenz und Eindeutigkeit in der Orientierung, als unterstellt werden kann. Unter diesem Label firmiert ein Konglomerat von Impulsen und Ideen, die sich eher gegenseitig ausschließen als ergänzen; ein Gutteil davon muss als Echo der kasinokapitalistischen Umgestaltung und nicht als emanzipative Antwort darauf gelten.

Das lässt sich unter anderem an der weiten Verbreitung von Konzepten neokeynesianischer Couleur in der Antiglobalisierungsdebatte festmachen. Nicht dass dem Gros der Protestierenden eine ungebrochene Staatsvergottung zu unterstellen wäre; dennoch bestimmen immer wieder Initiativen wie Attac, die sich für eine nachhaltige Besteuerung von Spekulationsgewinnen stark machen, wesentlich die Szene, und sie verhandeln mit den Liebhabern des verblichenen Interventionsstaates um die rührige Zeitschrift Le monde diplomatique.

Dafür sind vornehmlich zwei Momente verantwortlich. Zum einen lassen die mit der Entfesselung des totalen Marktes einhergehenden sozialen Verheerungen die vorausgegangene Phase kapitalistischer Entwicklung in einem vergleichsweise milden Licht erscheinen. Zum anderen wirkt hier die Art und Weise nach, in der die akademischen Stichwortgeber der Linken die Demontage des tradierten Antikapitalismus verarbeitet haben. Von der scheinbar erledigten Marxschen Theorie haben sie sich fast geschlossen auf die jeweils gerade vom aktuell herrschenden Diskurs aufgegebenen Positionen zurückgezogen, in wirtschaftlichen Fragen also auf die Lehre von Keynes.

Eine Kleinigkeit wird bei dieser Mobilisierung des warengesellschaftlichen Gestern gegen das warengesellschaftliche Heute allerdings verschwiegen: Der Neoliberalismus lässt sich keineswegs als rein politisch motivierte und erzwungene Zerstörung eines gut funktionierenden Kapitalismus mit »menschlicherem Antlitz« verstehen. Sein Siegeszug war bereits die innerkapitalistische Antwort auf die chronische Misere der noch staatlich eingehegten Wertverwertung.

Die Lebenslüge der neokeynesianisch orientierten Linken, die Macht sei prinzipiell domestizierbar, lässt den Antikapitalismus auf die Gegnerschaft zum Neoliberalismus zusammenschnurren. Das passt schlecht zu den unter Globalisierungsgegnern durchaus verbreiteten weiter reichenden Intentionen.

Dass diese Spannung bisher im Wesentlichen latent geblieben ist, liegt nicht allein an der geballten Autorität der linksakademischen ökonomischen Expertokratie, die unter den Protestierenden heute noch mehr oder minder das Monopol für makroökonomische Deutungen innehat. Die friedliche Koexistenz hängt wohl vor allem damit zusammen, dass sich einige zentrale, unmittelbar anstehende Forderungen der Globalisierungsgegner zur Not auch mit linkskeynesianischen Argumenten begründen lassen. Man muss aber keineswegs der abgetakelten Illusion von der Erneuerung des Regulationsstaats anhängen, um die überfälligen Schuldenstreichungen einzuklagen oder die neuesten WTO-Vereinbarungen zu bekämpfen. Der Minimalkonsens über einige erste Schritte deckt zunächst einmal zu, dass die weitere Marschrichtung überhaupt nicht klar ist und die Vorstellungen darüber, wohin die Reise gehen soll, auseinanderlaufen.

Im Rahmen der klassischen Ein-Punkt-Bewegungen (Anti-Akw-Bewegung usw.) haben sich solche Nebeneinander-Ineinander-Konstellationen als recht stabil erwiesen. Bei den Globalisierungsgegnern mit ihrem universellen, auf die weltwarengesellschaftliche Gesamtreproduktion zielenden Thema dürfte sich das kaum wiederholen. Angesichts dessen, was sich an realen ökonomischen und wirtschaftspolitischen Strukturbrüchen für die nächsten Jahre schon abzeichnet, stehen die Globalisierungsgegner nur vor der Wahl, sich entschieden von linkskeynesianischen Positionen zu verabschieden oder zum Juniorpartner des Bekämpften zu degenerieren bzw. den Laden ganz dicht zu machen.

Vergleichsweise harmlos sind dabei noch Ideen vom Schlag der Tobin-Steuer, hinter der die Vorstellung einer demokratischen Beteiligung am immer währenden kasinokapitalistischen Frühling und an den spekulativ »erwirtschafteten« Riesengewinnen steht. Nach dem Platzen der Finanzmarktblase, im Penny-stock-Zeitalter, erledigen sich derlei glorreiche Konzepte ganz von alleine.

Viel problematischer ist etwas anderes. Der Abschied der offiziellen Politik von Keynes war keineswegs endgültig. Die Hoffnungen jener Neoliberalismuskritiker, die von Marx zu Keynes wechselten, werden unter unseren Augen zu einem realen Alptraum. Beim verzweifelten Versuch, den Absturz der Bubble-Ökonomie aufzuhalten, ist die offizielle Wirtschaftspolitik selbst dabei, die Lieblingsinstrumente dieser Sorte Kritiker in ganz großem Stil anzuwenden. Massive Zinssenkungen, eine expansive Ausgabenpolitik des Staates und eine nachhaltige Nachfrageförderung - Maßnahmen also, von denen sich die Linkskeynesianer eine Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten am wachsenden Wohlstand versprachen - dienen in ihrer börsenkeynesianischen Wendung einzig einer Vergesellschaftung der anfallenden Verluste.

Unter diesem veränderten Vorzeichen müssen Globalisierungsgegner keynesianische Vorstellungen nicht nur überwinden, um über bloßen Reformismus hinauszukommen; vielmehr lässt sich ohne eine entschiedene Kritik dieser Konzepte künftig auf der makroökonomischen Ebene überhaupt nichts halbwegs Plausibles mehr gegen das Geschäftsgebaren der G 8 und ihrer internationalen Anhängsel einwenden.

Nicht nur die keynesianische Nostalgie als Reflex auf die neoliberale Offensive der achtziger und neunziger Jahre ist dazu angetan, den kritischen Impetus zu unterminieren. Nicht wenige Initiativen interpretieren auch Selbstorganisation ganz automatisch immer schon als die Selbstorganisation von Marktsubjekten. In der Regel bleibt die Grenze zwischen Selbstorganisation für oder gegen den Markt und seine Logik unscharf. In einer Phase, in der es allein darum zu gehen schien, den von der neoliberalen Dynamik an den Rand Gedrängten die eine oder andere Marktnische zu eröffnen, konnte sich das vielleicht pragmatisch als punktuelle Verbesserung von Lebensbedingungen legitimieren.

In dem Maße jedoch, wie sich diese Dynamik selber bricht und die kapitalistische Realökonomie weltweit schrumpft, gewinnt die grundlegende Differenz klare Konturen. Mit dem Ende des Neoliberalismus wird eine Kritik, die sich auf dessen »Risiken und Nebenwirkungen« kapriziert und ansonsten schillert, obsolet. Das Antiglobalisierungsspektrum wird sich entscheiden müssen, Hilfstruppe der globalen Notstandsverwaltung zu werden oder die Ursachen des Notstands selbst zu bekämpfen.