Verkauf der Bibliothek von Jürgen Kuczynski

Der Schatz in Weißensee

1,7 Buchkilometer suchen einen Millionär. Die Privatbibliothek von Jürgen Kuczynski wird verkauft.

Wir haben es in der Berliner Zeitung gelesen. Das Feuilleton machte mit einem großen Artikel auf: Die Privatbibliothek der Kuczynskis steht zum Verkauf. Von 1,7 Kilometern Buchregal und der größten Privatbibliothek Berlins war dort die Rede, von 70 000 Büchern und 35 000 Zeitschriften, von über 200 Jahren Sammelleidenschaft und von kostbaren Autogrammen, von Kant-Erstausgaben und von ersten Marx-Raubdrucken, von Geschichte, Geschichte, Geschichte. Das alles ist zu haben für zwei Millionen Mark. Ein bibliophiles Großereignis. Daran wollen wir - das sind Werner, Sarah und ich - teilhaben. Wir wollen es sehen.

Also machen wir uns auf den Weg zu einer kleinen, lange nicht mehr renovierten Stadtvilla in Berlin-Weißensee. Dort öffnet uns Thomas Kuczynski die Tür und führt uns ins Haus, in dem seine Eltern bis zu ihrem Tod im August 1997 bzw. Januar 1998 wohnten. Und es riecht nicht nach alten Leuten dort, nach Staub, Zigaretten und dem Eintopf für zwei Tage, es riecht dort schokoladig-holzig, nach alten Büchern eben. Wo man hinsieht, sind Bücher gestapelt, ja fast in die Schränke gestopft, und beinahe jede Wand ist von gefüllten Buchregalen verstellt. Dazwischen wurde nur für die Fenster und einige wenige Tische und Stühle Platz gelassen, ein bisschen Kram, ein Schreibtisch und darauf die Arbeitsutensilien und der Computer des Wirtschaftswissenschaftlers und freien Publizisten Thomas Kuczynski, der nicht hier wohnt, sondern nur die Bücher hütet. Einige Bilder sind abgehängt, die Tapeten stark vergilbt, der Garten verwildert langsam, und der Staub tut das seine. Das Haus gehört der Bibliothek, nur noch für die Bücher ist es da.

Wir sind wie erschlagen. Thomas Kuczynski schmunzelt. Er ist nicht nur hier aufgewachsen, sondern hat alle diese Bücher auch in den letzten zwei Jahren wenigstens einmal in der Hand gehabt, denn er hat sie abgestaubt - was Jürgen Kuczynski selten zugelassen hat, denn Staub schützt - und hat sie in eine auch für Fremde überschaubare Ordnung gebracht. »Sie können sich denken, da habe ich einige Tonnen Bücher umherschleppen müssen.« Diese Neuordnung war nötig, denn für seine Eltern war diese Bibliothek immer eine Arbeitsbibliothek und dementsprechend eigenwillig sortiert.

Der berühmte Wirtschaftswissenschaftler und DDR-Spätbürger Jürgen Kuczynski war mit seiner Frau Marguerite, die gleichfalls als Wirtschaftswissenschaftlerin arbeitete, 1950 in dieses Haus in Ostberlin gezogen, nachdem man der Familie in Westberlin die Scheiben eingeworfen hatte. Die knapp 40 000 Bücher, die die Kuczynskis aus dem englischen Exil zurückgebracht hatten, musste man heimlich über die Sektorengrenze schmuggeln.

Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde diese Bibliothek von einem begeisterten Kantianer gegründet. Und sie wurde immer weiter vererbt, in einer großbürgerlichen Familie, deren Angehörige Umgang mit Intellektuellen und Künstlern wie Brecht, Heine, Hermlin, Käthe Kollwitz oder Karl Liebknecht pflegten. Daher sind nicht wenige Bücher mit privaten Widmungen versehen. Die Bibliothek ist zweimal emigriert, einmal um 1848 nach Paris, als der liberale Ururgroßvater von Thomas Kuczynski in Deutschland mit Haftbefehl gesucht wurde, und dann Anfang der dreißiger Jahre, als der Großvater Robert René Kuczynski vor den Nazis nach England fliehen musste und seine ihm nachfolgende Frau schließlich 40 000 Bücher ins Exil retten konnte.

Als der für die illegale KPD arbeitende Jürgen Kuczynski 1936 Nazi-Deutschland verließ, blieben weitere 20 000 Bücher in der Wohnung zurück. Sie wurden zunächst in die Bibliothek des Reichsarbeitsdienstes aufgenommen und gingen im Krieg verloren. Der eifrige Büchersammler und begeisterte Leser Jürgen Kuczynski kaufte einiges nach, zudem kamen ständig neue Bücher hinzu (allein vom Autor Jürgen Kuczynski noch einmal über hundert Titel). Er begriff sich als Universalgelehrter, der auch eine tiefe Leidenschaft für die Belletristik hegte, deshalb gehören zur Sammlung nicht nur ökonomische Schriften. Vielmehr spiegelt sich in der Bibliothek ein Stück deutscher Geistesgeschichte. Da die Familie zudem stets humanistisch und aufklärerisch gesonnen war, ist diese eine der wenigen großen deutschen Büchersammlungen, die nicht ständig durch deutschnationale Reinigungsrituale diskreditiert und gesäubert wurde. Das alles macht die Bibliothek einzigartig.

Heute umfasst sie ungefähr 70 000 Bücher, zigtausende Zeitschriften und die Nachlässe von Jürgen Kuczynski und seinem Vater. Diese Bibliothek wollen Thomas Kuczynski, sein Bruder Peter und seine Schwester Madeleine nun verkaufen. Der Verkauf hat verschiedene Gründe. Zum einen lohnt es sich nicht, weiterhin allein für die Bücher das Haus zu mieten. Und keines der Kinder könnte die Masse in der eigenen Wohnung adäquat unterbringen. Zum anderen aber bräuchte es inzwischen auch eine bibliothekarische Pflege, denn einige der Bücher sind jetzt - obschon sie in einem guten Zustand sind - in das Alter gekommen, in dem Säurefraß dem Papier zu Leibe rückt. Auch benötigen die Nachlässe eine Sichtung und wissenschaftliche Aufarbeitung, doch mag man als Privatier ja nicht ständig Wissenschaftler aus aller Welt bei sich unterbringen, die dann wochenlang im ganzen Haus herumstöbern müssten. Vor allem aber wollen die drei Geschwister die Bibliothek der Öffentlichkeit zugänglich machen.

Der Gesamtpreis von zwei Millionen Mark ergibt sich durch eine Schätzung, die von einem renommierten Antiquariatshaus vorgenommen wurde. Eigentlich eine lächerliche Summe, vergleicht man sie mit dem, was für alte Autos oder Silberbesteck verlangt wird. »Würde man die Rosinenstücke verkaufen, ließe sich bestimmt viel mehr Geld erzielen«, sagt Thomas Kuczynski. Die Erben bestehen allerdings darauf, dass die Bücher und Schriften auch zukünftig zusammen bleiben. Am allerliebsten wäre ihnen eine Stiftung, die den Gesamtkorpus am jetzigen Ort erhält und so geschlossen präsentiert. Doch die nötige Stiftungssumme von ungefähr zehn Millionen Mark ist für die Erben nicht aufzubringen, und bibliophile Millionäre haben offensichtlich kein Interesse an der Arbeitsbibliothek eines marxistischen Universalgelehrten.

Seit über zwei Jahren suchen die Erben bereits nach einem Käufer. Während die diversen Berliner Bibliotheken sich nicht einmal gemeldet haben, mussten viele andere Interessenten wegen der Folgekosten abwinken. Auch die Rosa Luxemburg-Stiftung, die der ideale neue Besitzer wäre, kann sich die Bibliothek nicht leisten. Zur Zeit verhandelt man mit zwei Kaufinteressenten aus Deutschland, einem aus den USA und mit einer Privatuniversität in Japan. Die Japaner planen auf Grundlage dieser und einiger anderer Sammlungen ihre Universitätsbibliothek zu gründen. »Wissen Sie, die Japaner sind verrückt auf deutsche Geschichte.« Würden es die Erben bedauern, wenn die Bibliothek ins Ausland ginge? »Nein, überhaupt nicht. Diese Bibliothek hat schon zwei Emigrationen überstanden, da wird ihr auch eine dritte nicht schaden. Wenn dieses Land sie nicht haben will - warum nicht nach Japan?«

Auch wird Thomas Kuczynski diesen Bücherschatz nicht wirklich vermissen: »Zwar ist es sehr angenehm, zu wissen, dass man für dieses oder jenes Buch nur ins Nebenzimmer gehen muss, aber um die Benutzung der öffentlichen Bibliotheken komme ich deshalb nicht herum. Und mein Vater war trotzdem immer ein fleißiger Bibliothekengänger. Je mehr Bücher man besitzt, desto mehr Bücher vermisst man. Außerdem habe ich zu Hause ja meine eigenen Bücher.« Als wir fragen, ob diese Bücher vielleicht den Grundstock für eine neue Privatbibliothek bilden, lächelt Kuczynski: »Nein, wissen Sie, ich möchte denen, die da nach mir kommen, eigentlich nicht so viel Arbeit hinterlassen.« Daher hat sich auch keiner der Erben ein Buch herausgenommen, lediglich die Dubletten wurden aussortiert. »Auch wenn es nicht zu dieser Zeit passt, solle man doch versuchen, anständig zu bleiben.« Und spätestens in einem Jahr, so schätzt Thomas Kuczynski, wird sich ein Käufer gefunden haben.

Nach einer Stunde stehen wir wieder vor dem Haus, neidisch, gierig und auch ein wenig traurig. So viele Bücher. Gleichzeitig aber wissen wir, in diesem Haus sitzt jemand, der froh ist, dass sich bald jemand anderes darum kümmern darf. Jemand, der diese Bibliothek zugänglich macht.