Eine Hand wäscht die andere

Nur langsam löst sich Kroatien vom Klientelsystem Franjo Tudjmans. Beim Aufbau marktwirtschaftlicher Strukturen bleiben alte Seilschaften nützlich.

Agatha Christies 1925 erschienener Kriminalroman »Secrets of Chimneys« spielt in einem fiktiven Balkanstaat namens Herzoslovakia. Auf die Beschreibung des Schauplatzes verschwendet die Autorin nicht allzu viele Worte: »Es handelt sich um einen der Balkanstaaten. Die wichtigsten Flüsse, unbekannt. Die wichtigsten Gebirgszüge, auch unbekannt, aber ziemlich zahlreich. Hauptstadt, Ekarest. Bevölkerung, hauptsächlich Räuber. Freizeitbeschäftigung: Königsmord und die Veranstaltung von Revolutionen.«

Am Kern dieser Stereotype hat sich über die Jahrzehnte kaum etwas verändert. Das Wort Balkan (türkisch für Gebirge) bezeichnet damals wie heute weniger eine Region Europas als eine imaginäre Gegenwelt zur europäischen Zivilisation: Sie beginnt genau dort, wo das Reich von ordentlicher Staatlichkeit und erarbeitetem Wohlstand endet.

Nirgendwo erfreut sich dieses Klischee so großer Beliebtheit wie in Südosteuropa selbst. Der Balkan, das sind in der Regel die jeweiligen Nachbarn. Insbesondere dem kroatischen Nationalismus dient der antibalkanische Affekt seit jeher als Leitmotiv schlechthin.

Wer als Tourist in Zagreb, Split oder auf Krk in einem der Straßencafés sitzt, könnte meinen, die panische Absetzbewegung in Richtung Europa sei im Wesentlichen von Erfolg gekrönt. Allerdings täuscht das friedlich-entspannte Bild bescheidener Prosperität, denn die phantasmagorische Flucht bestimmt die reale ökonomische Entwicklung ganz entscheidend. Vielleicht entsprach Kroatien dem Balkan-Klischee noch nie in gleichem Maße wie heute. Sicherlich ähnelt das Land zehn Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem jugoslawischen Staatsverband strukturell seinem serbischen Nachbarn - Feindschaft verbindet - weit mehr als zu Zeiten des sozialistischen Jugoslawiens.

Noch auf dem Tiefpunkt der jugoslawischen Malaise hatte Kroatien gemessen am durchschnittlichen Einkommen und der Wirtschaftskraft hinter Slowenien den zweiten Platz innerhalb der postkommunistischen Länder inne. Heute ist das Land auf Rang sieben abgerutscht. Die Industrieproduktion sank im Vergleich zum Katastrophenjahr 1990 noch einmal um 40 Prozent. Schon die offizielle Arbeitslosenrate von 23 Prozent mutet recht dramatisch an, und doch gibt diese Ziffer die Situation nur verzerrt wieder. Hunderttausende von Pseudobeschäftigten, die sich seit Jahr und Tag im »Zwangsurlaub« befinden und auf ihren Lohn warten, tauchen in der Statistik erst gar nicht auf.

Anderen ehemals realsozialistischen Ländern wie Polen, Tschechien oder Slowenien gelang während der kasinokapitalistischen Boomphase der neunziger Jahre zumindest eine partielle Integration in die offizielle internationale Arbeitsteilung. Kroatien dagegen taucht nicht als »verlängerte Werkbank« des europäischen Kapitals auf und hat von den ausländischen Direktinvestitionen kaum etwas abbekommen.

Für diesen Unterschied und den wachsenden Rückstand des Landes auf den regulären Märkten sind natürlich die kriegerischen Verwicklungen und ihre Folgen verantwortlich. Die unmittelbaren Kriegsschäden spielten dabei freilich die geringste Rolle, und auch die Trennung von den traditionellen Absatzmärkten erklärt zwar die Talfahrt der frühen neunziger Jahre, nicht aber deren Fortsetzung. Langfristig war etwas anderes entscheidend: Die militärische Konfrontation schuf die idealen Bedingungen für die Herausbildung eines weit verzweigten Klientelregimes. Im Windschatten der nationalen Mobilisierung entstand ein tief in der Gesellschaft verankertes Seilschaftssystem mit vielen kleinen und wenigen großen Profiteuren.

Dank des für Außenstehende undurchschaubaren Konglomerats von Privatisierungs- und Kriegsgewinnlern, staatlichen Funktionsträgern, ehemaligen Freischärlern und kriminellen Milieus genießt Kroatien auf den irregulären Märkten enorme Wettbewerbsvorteile; im regulären Standortwettbewerb hingegen erweist sich die fehlende Scheidung von politischer und wirtschaftlicher Macht und die unscharfe Grenze zwischen staatlichem und privatem Eigentum als permanentes Hemmnis.

Im Jugoslawien Titos zeichnete sich der Konflikt zwischen staatssozialistischen und marktwirtschaftlichen Elementen eigentümlicherweise durch eine starke nationale Note aus. Die Führung der kroatischen Teilrepublik und große Teile der dortigen Bevölkerung waren sich einig: Die Belgrader Apparatschiks beuten die besondere wirtschaftliche Kompetenz der Bewohner ihres Landesteils aus. Zu dieser Sicht passte recht gut die deutliche Unterrepäsentation des kroatischen Elements in den gesamtstaatlichen Apparaten, insbesondere im Repressionsapparat.

Kaum unabhängig geworden, begann der junge Staat auf diesem Gebiet eine beeindruckende Aufholjagd. Die führenden Kämpfer für die heilige nationale Sache belohnten sich für ihren selbstlosen Einsatz mit den Rosinen aus dem gesellschaftlichen Eigentum, während sie ihre Gefolgsleute massenweise mit Jobs im öffentlichen Sektor oder wenigstens mit Renten versorgten. Die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts geht in den aufgeblähten Staatsapparat; das ist der Rekordwert unter den postkommunistischen Ländern.

Der schwache Punkt einer solchen Ordnung liegt auf der Hand. Sie ist hoffnungslos defizitär. Der kroatische Staatshaushalt weist beständig ein dickes Minus aus (1999: 7,3 Prozent), und auch die Leistungsbilanz ist chronisch negativ. Titos Jugoslawien ging einst an einer Auslandsverschuldung von 1 000 Dollar pro Kopf zu Grunde. In Kroatien liegt sie mittlerweile mehr als doppelt so hoch.

Kroatien konnte so lange einigermaßen über die Runden kommen, wie an die Stelle der versiegenden regulären Wertschöpfung alternative Geldzuflüsse traten. Franjo Tudjman und seine Kroatische Demokratische Gemeinschaft (HDZ) haben es über Jahre verstanden, gleich zwei Quellen anzuzapfen. Sie wussten die Überlegenheit des Klientelsystems auf den irregulären Märkten weidlich zu nutzen und ließen sich gleichzeitig von der kroatischen Diaspora und dem Westen für ihre Rolle als ideologische Vorkämpfer Europas bezahlen.

Diese Doppelstrategie hat freilich Grenzen. Angesichts der fehlenden Bereitschaft des Tudjman-Regimes, die marktideologischen Vorgaben des Westens zu befolgen und damit die Grundlage der eigenen Herrschaft zu zerstören, ließ auch die westliche Neigung nach, Zagreb weiterhin auszuhalten. Das allmähliche Versiegen der Zuflüsse gefährdete aber wiederum die Legitimations- und Machtbasis der HDZ-Regierung. Ende der neunziger Jahre hatte sie auch ihren eigenen Anhängern zu wenig zu bieten. Der Sieg des sozial-liberalen Oppositionsbündnisses nach Tudjmans Tod Ende 1999 war da nur die logische Konsequenz.

Der Regierungswechsel hatte bei aller Unzufriedenheit mit der als übertrieben geltenden Selbstbedienungsmentalität der HDZ-Seilschaften wenig mit einem Macht-, geschweige denn einem Systemwechsel zu tun. Die seit Januar 2000 amtierende Sechserkoalition wurde nicht gewählt, um auf dem Altar der Marktideologie das bisschen an sozialem Besitzstand zu opfern, das breiteren Kreisen im Klientelsystem zuteil wurde. Sie hat vielmehr die Mission, als noch nicht desavouierte Kraft die ausländischen Geldhähne wieder aufzudrehen und die alte Ordnung weiter am Laufen zu halten.

Das scheint erst einmal auch zu gelingen. Immerhin hat der IWF bei seiner neuerlichen Kreditvergabe großzügig darüber hinweggesehen, dass aus den angekündigten Budgetkürzungen von umgerechnet einer Milliarde Euro für das Jahr 2000 nichts geworden ist und in den ersten fünf Monaten des Jahres das Haushaltsdefizit auf einen neuerlichen Höchststand von rund 2,5 Milliarden Euro kletterte.

Wie es um den kroatischen Klientelismus bestellt ist, zeigte ein Parlamentsvorfall im Juni. Premier Ivica Racan (SDP) unterbrach die Parlamentsrede seines Finanzministers und Parteifreundes Mate Crkvenac, als dieser allen Ernstes die Entlassung von 20 000 Staatsbeschäftigten ankündigen wollte. Racan wusste wohl, dass eine Machtprobe mit dem von der HDZ etablierten System nie und nimmer zu gewinnen wäre.