Prozess um getöteten Arbeitsamtsdirektor

Verzweiflung im Affekt

Im Urteil gegen den Arbeitslosen Werner Braeuner zeigt sich, wie sozialer Protest psychologisiert wird.

Ich bin froh, dass die politische Komponente in das Verfahren nicht hereingetragen wurde, dass der Prozess ruhig, ohne Störung, ohne Eingriffe von außen abgelaufen ist.« So äußerte sich Staatsanwalt Bredereck vom Landgericht in Verden bei der Urteilsverkündung gegen Werner Braeuner am vergangenen Montag vor den Kameras. Zwölf Jahre Haft kommen nun auf den Arbeitslosen zu. Im Februar hatte er den Direktor des für ihn zuständigen Arbeitsamtes, Klaus Herzberg, getötet. Man solle, so Bredereck, Abstand von politischen Interpretationen nehmen, schließlich handele es sich um eine »sinn- und vernunftlose Tat«, die Strafe sei deswegen angemessen.

Zu Beginn des Prozesses hatte derselbe Staatsanwalt noch ganz andere Töne angeschlagen. Damals hieß es, der Angeklagte habe den Entschluss gefasst, den Direktor »als Symbol des Arbeitsamtes und der ganzen Gesellschaft« zu töten. Braeuner habe ein politisches Signal setzen wollen, weshalb die Anklage zunächst auf vorsätzlichen Mord lautete.

Schließlich hatte Braeuner in mehreren Texten, die nach wie vor im Internet zu lesen sind, die »bürokratische Exekution des Sozialrechts« aggressiv kritisiert und drei Wochen vor der Tat dem Arbeitsamtsdirektor geschrieben: »Abgesehen von der Farbe Ihres Anzuges, worin unterscheiden Sie sich von einem Nazischergen?« Wenige Minuten nach der Tat bat er auch noch einen Freund telefonisch, »der Bewegung« Bescheid zu geben.

Doch im Verlauf des Verfahrens hatten sein Verteidiger, der Rechtsanwalt Michael Brennecke, und Braeuner nie von bewaffnetem Widerstand gegen die Willkür der Arbeitsämter gesprochen. Die Tötung von Klaus Herzberg sei aus panischer Angst und schierer Verzweiflung erfolgt. Werner Braeuner habe nicht mehr gewusst, was er tat, darum plädierte Brennecke auf Totschlag im Affekt.

So stand die angebliche psychische Verfassung des Angeklagten im Zentrum der Verteidigung, was zur Folge hatte, dass die soziale Dimension des Falls während des Verfahrens kaum eine Rolle spielte. Arbeitslosigkeit, so Brennecke, sei nicht die direkte Ursache, sondern eine »Rahmenbedingung« der Tat gewesen, die von einem »Motivationsbündel« verursacht worden sei.

Wie groß ist die politische Dimension des Falles Braeuner? Bereits vor dem Prozesses hatten sich verschiedene Arbeitsloseninitiativen und linken Gruppierungen heftig über diese Frage gestritten. »Man kann doch einen solchen Mord nicht billigen«, lautete die Antwort aus Deutschland, als Mitglieder der französischen Arbeitslosengruppe AC! versuchten, ein Unterstützerschreiben für Braeuner zu verbreiten. Insbesondere im Raum Bremen-Oldenburg, wo er bekannt war, bewertete man eine politische Unterstützung für den Angeklagten als »kontraproduktiv«, fürchtete eine mediale Verquickung des Gewaltakts mit so genannten respektablen Arbeitslosenprotesten und wollte sich einer möglichen Kriminalisierung nicht aussetzen.

Dass er ohnehin nie »ernsthaft« politisch gehandelt habe, wusste die Redaktion der Oldenburger Zeitschrift Quer zu berichten. In einem Artikel warf sie dem Inhaftierten vor, er hätte stets die Auseinandersetzung mit den Ämtern auf der individuell-persönlichen Ebene gesucht, statt kollektive politische Handlungsstrategien zu finden.

»Welche fatalen Folgen eine solche Individualisierung haben kann, ist in Verden auf schreckliche Weise sichtbar geworden«, so das flinke Urteil von Quer. Ein Grund für das verbreitete Schweigen um Werner Braeuner ist, dass er keine Identifikationsfläche bot - weder als Märtyrer noch als Held. »Wir unterstützen keinen Mensch, der seine Tat selbst bereut«, erklärten anarchistische Fundamentalisten. Denn Braeuner hatte sich bereits eine Stunde nach der Tat der Polizei gestellt und seitdem stets betont, er habe in einem Zustand der Bewusstseinsstörung gehandelt.

Die Art der Tötung schließt eine kaltblütige Planung ohnehin aus. 24 Mal stach Braeuner dem Arbeitsamtsdirektor mit einem kleinen spitzen Werkzeug in den Kopf. Eine solche Handlung kann nur im Affekt durchgeführt werden, davon waren selbst die Richter bei der Urteilsbegründung überzeugt.

Doch die entscheidende Frage stellt sich nun erst recht: Welche Umstände können einen Menschen, der von allen Zeugen als hochintelligent, rational, friedfertig und gesellig beschrieben wird, zu einem solch unkontrollierten Gewaltausbruch geführt haben? Während des Prozesses wurden tagelang verschiedene Facetten des Lebens und der Persönlichkeit Braeuners seziert: von der Kindheit bis zur komplizierten Beziehung zur Freundin - »Es war die Frau und nicht das Amt«, folgerte daraus voreilig die Korrespondentin der taz -, von der Diagnose des »Narzissmus mit schizoid-paranoiden Akzentuierungen« bis hin zur Erstellung einer Chronik seiner langsamen Fahrt ins Schattenreich.

Vor lauter Versuchen der Psychologisierung blieben einfache Tatsachen wie beispielsweise der Grund für den Streit mit dem Arbeitsamtsleiter während der Verhandlung nahezu unerwähnt. Nachdem Braeuner eine Weiterbildung abgebrochen hatte, wurden ihm für drei Monate die Zahlungen gesperrt. Als er versuchte, Klaus Herzberg von der Richtigkeit seiner Gründe zu überzeugen, antwortete der Direktor, eine Sperre müsse in jedem Fall verhängt werden. Vor Gericht aber erklärte ein Sachbearbeiter ganz nebenbei, diese Aussage Herzbergs entspreche nicht der aktuellen gesetzlichen Regelung. Die Stichhaltigkeit der Gründe eines Abbruchs der Weiterbildung müsse vom Arbeitsamt geprüft werden, bevor über eine Sperre oder die Weiterzahlung entschieden wird. Werner Braeuner war also nicht nur in finanzielle Not geraten, auch der ihm häufig zugeschriebene »starke Gerechtigkeitssinn« wurde einmal mehr verletzt.

So wird auch die tiefe Enttäuschung plausibel, welche sich noch an jenem Morgen verstärkte, als Klaus Herzberg Braeuner mit den Worten »Verschwinden Sie!« zurückwies und der Arbeitslose außer sich vor Wut geriet. Das Gericht jedoch schrieb Braeuners kritisches Verhältnis zum Arbeitsamt seinem angeblichen Verfolgungswahn zu.

In dieser Pathologisierung ist die eigentliche politische Dimension des Falls zu erkennen. Zu Braeuners Abbruch der Fortbildung trotz der drohenden Sperre meinte der psychiatrische Gutachter, er habe »nicht lösungsorientiert gesucht, sondern unheilvolle Anti-Aktionen gestartet oder - wenn das nichts mehr brachte - die Opferhaltung eingenommen«.

Während des Prozesses gegen Braeuner wurde in der Presse bekannt gegeben, die Zahl der Sperrzeiten gegen Arbeitslose habe im ersten Halbjahr um mehr als 15 Prozent zugenommen. Allein in den alten Bundesländern wurde 10 000 Arbeitslosen die Unterstützung entzogen, weil sie eine Bildungsmaßnahme verweigert oder abgebrochen hatten.

Das Urteil gegen Braeuner ist nicht frei von politischen Überlegungen. Zwölf Jahre sind zwar eine milde Strafe für Mord, doch bei Totschlag im Affekt ist in der Regel ein geringeres Strafmaß üblich, wogegen die als notabel geltende gesellschaftliche Position Herzbergs in der Kleinstadt Verden sprach.

Trotzdem war von vornherein klar, dass ein Prozess keinen aufklärerischen Rahmen für eine solche Problematik bieten konnte. Die Auseinandersetzung, die zu diesem Anlass bei verschiedenen Gruppen und Individuen in Gang kam, wird nicht mit der Urteilsverkündung aufhören. Und Braeuner scheint weiterhin an der Diskussion teilnehmen zu wollen. In einem Brief, den er am Vorabend der Urteilsverkündung schrieb und der nun in der Mailingliste der Krisis-Gruppe zirkuliert, wirft er den Arbeitsloseninitiativen vor, »unter dem Deckmantel der Verhinderung eines noch Schlimmeren an der sozialen Triage mitzuwirken.« Außerdem bittet er, »sich der Forderung nach sofortiger Schließung aller Arbeitsvermittlungs- und Beratungsstellen in Europa anzuschließen.«