Streit um Auslieferung von Kriegsverbrechern

Gang nach Den Haag

In Bosnien-Herzegowina wächst die Bereitschaft zur Auslieferung vermeintlicher muslimischer Kriegsverbrecher. Wie in Kroatien und Serbien ist die Bevölkerung dagegen.

Einen hat sie bei ihrer Aufzählung einfach vergessen. »Die Zusammenarbeit mit dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag scheint nun Ausdruck der Hinwendung zu universellen moralischen Normen jenseits des Ethnozentrismus von Tudjman und Milosevic zu sein«, schrieb Mira Markovic vorige Woche in einem Beitrag für die Welt. »Doch muss man sich fragen«, fügte die Soziologin und Ehefrau des früheren jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic hinzu, »ob die Gesellschaften auf dem Balkan diese Normen auch verinnerlicht haben, denen sich ihre neuen Machthaber nun so emsig beugen.« Die gleiche Frage könnte man auch der bosnischen Gesellschaft stellen, deren ehemaligen Präsidenten Alija Izetbegovic Markovic in ihrer Aufzählung nicht erwähnte. Obwohl Izetbegovic bei den Verhandlungen zur Beendigung des Bosnien-Krieges auf dem US-Luftwaffenstützpunkt in Dayton/Ohio 1995 der Counterpart zu Milosevic und Franjo Tudjman war.

Dafür, dass Markovic den im Herbst vorigen Jahres Zurückgetretenen so schnell nicht mehr vergisst, könnte schon bald die bosnisch-serbische Regierung sorgen. Sie erklärte Ende August, über Beweise für die Verantwortung Izetbegovics für Kriegsverbrechen zwischen 1992 und 1995 zu verfügen. Bis Mitte September, so Regierungssprecher Sinisa Djordjevic, würden entsprechende Dokumente an das Uno-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag übermittelt. Izetbegovic verkündete bereits in der bosnischen Wochenzeitung Dani, er werde in Den Haag aussagen, sollte das Tribunal dies wünschen. Schließlich hätten er und seine engsten Berater »Verbrechen verhindert, wo wir nur konnten und waren damit meistens erfolgreich«.

Davon werden auch alle anderen mutmaßlichen Kriegsverbrecher überzeugt sein. Sieben Generäle aller Konfliktparteien aus dem Bosnien-Krieg - neben den Einheiten der bosnisch-muslimischen Armee Izetbegovics kämpften unzählige Milizen der kroatischen ebenso wie der serbischen Bosnier zwischen 1992 und 1995 gegeneinander - sitzen inzwischen in Den Haag ein. Und noch ehe die serbische Regierung Zoran Djindjics im Juni Milosevic an das Tribunal auslieferte, stellte sich mit Biljana Plavsic das erste Mitglied der politischen Führung der bosnischen Serben freiwillig dem Tribunal.

Seit Januar war die 71jährige, die sich selbst für unschuldig erklärte, wegen der Vertreibung und Ermordung Tausender nicht serbischer Einwohner Bosnien-Herzegowinas im Untersuchungsgefängnis von Scheveningen inhaftiert. Wegen ihrer belastenden Aussagen über ihren Vorgänger Radovan Karadzic und dessen General Ratko Mladic hat sich der freiwillige Aufenthalt in dem Gefängnis, in dem auch Milosevic einsitzt, für die frühere Präsidentin der Republika Srpska bereits gelohnt. Der Vorsitzende Richter des Tribunals, Richard May, teilte am letzten Mittwoch mit, dass es Plavsic erlaubt werde, in Serbien auf ihren Prozess zu warten.

Ebenfalls kooperativ zeigt sich der Ministerpräsident der Republik Srpska, Mladen Ivanovic von der Partei für Bosnien-Herzegowina, dessen Kabinett im Juli einen Gesetzesentwurf zur Auslieferung mutmaßlicher Kriegsverbrecher verabschiedete. Gestoppt werden dürfte er allerdings durch die früher von Karadzic geführte Serbische Demokratische Partei, die bei der für kommende Woche geplanten Abstimmung im Parlament ihre Stimmenmehrheit zur Ablehnung nutzen will. Kein Grund für die internationalen Vertreter in Sarajevo, an der Pflicht zur Zusammenarbeit zu zweifeln. »Es braucht kein eigenes Gesetz. Das ist vielleicht eine nette Fleißaufgabe, aber grundsätzlich besteht bereits die verfassungsgemäße Pflicht zur Zusammenarbeit«, hieß es im Juli aus dem Büro des Hohen Repräsentanten, Wolfgang Petritsch.

Die Bereitschaft eines Teils der bosnisch-serbischen Eliten zur bedingungslosen Kooperation mit Den Haag ist aber nicht der einzige Grund für die wachsende Entfremdung zwischen der Bevölkerung und der Regierung in Bosnien. Entscheidender dürfte das diffuse Gefühl der Diskreditierung des bosnisch-muslimischen Kampfes gegen die Einheiten Mladics und Karadzics sein. Denn auch wenn sich nur sechs der 70 vom Haager Tribunal veröffentlichten Anklagen gegen bosnische Muslime richten, wird zwischen Tuzla und Sarajevo jeder Zweifel an der Legitimität der eigenen Militärführung als nationaler Verrat aufgefasst.

So kam es im August in dem mehrheitlich muslimisch besiedelten Zentralbosnien zu heftigen Protesten, nachdem die früheren Izetbegovic-Generäle Enver Hadzihasanovic und Mehmed Alagic sowie der Kommandeur Amir Kubura nach Den Haag ausgeliefert worden waren. Den drei Männern an der Spitze der 7. Muslimischen Bergbrigade, die als persönliche Leibgarde Izetbegovics galt, wird vorgeworfen, im Juni 1993 mindestens 200 bosnisch-serbische und -kroatische Zivilisten umgebracht zu haben.

Ähnlich wie in Kroatien, wo bürgerliche und extreme Rechte seit Monaten gegen die Auslieferungspolitik des Ministerpräsidenten Ivica Racan und des Präsidenten Stipe Mesic mobil machen, beteiligten sich in Bosnien große Teile der Bevölkerung an Gegenaktionen. In Sanski Most folgten 15 000 Menschen einem Protestaufruf der Kriegsveteranenverbände, innerhalb weniger Tage war die ganze Stadt mit Plakaten zugeklebt, die das Konterfei Alagics zeigten.

Die Zentralregierung in Sarajevo, die seit ihrer grundsätzlichen Zustimmung zum Vertrag von Dayton immer nur die Verhaftung und Auslieferung bosnisch-serbischer Militärs anordnete, müht sich redlich, die Kooperation mit dem Kriegsverbrechertribunal vor der eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen. »Ihr Gang nach Den Haag war ein Akt der Würde, ebenso wie es ein Akt der Würde war, als sie dieses Land verteidigten - als wahre Kommandeure und Helden«, sagte Innenminister Muhamed Besic der bosnischen Tageszeitung Oslobodjenje.

Übertroffen in seinem Kampf um die nationale Ehre wurde Besic nur noch von Izetbegovic. Er werde nicht zögern, das Schicksal seiner Generäle zu teilen, erklärte er nach der Ankündigung der Republika Srpska, belastende Dokumente nach Den Haag zu schicken. »Soll das Haager Tribunal nur seinen Job machen. Das ist der Ort, wo die Geschichte Bosniens geschrieben wird.«