Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn

Wo Ich ist, soll Bürgermeister sein

Ein weiteres Schmuckstück für die Gysitaria-Sammlung: »Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn«.

Ich! Ich, ich, ich! Gregor Gysis Buch mit dem windelweichen Titel »Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn« handelt, na, natürlich von Gregor Gysi. Und zwar von dem der Jahre 1995 bis 2000. Es ist dies eine 387-Seiten-Wundertüte für untern Weihnachtsbaum bei Gysi-Fans. Passend erschienen zum Aufstieg der PDS-Wundertüte zum Bürgermeister-Kandidaten und Sozialleistungskürzer von Berlin.

Also, wenn Gregor Gysi über sich schreibt, dann muss da natürlich oft »Ich« drinstehen. Man muss das Buch einfach gegen den Strich lesen. Ein Schritt nach vorn. Konkret: von hinten anfangen. Da gibt es nämlich ein Verzeichnis berühmter Leute, die in dem Buch vorkommen, eine gut geratene Zusammenfassung, die Gysis Gewicht in der Weltgeschichte umreißt: Ich und Heinrich Lübke, Ich und der Mufti von Belgrad, Ich und Kim Il Sung, Ich und Gandhi, und Drewermann und Arafat. Lesenderweise sieht man sich in Woody Allens Film »Zelig« versetzt: Da ist die Hauptfigur auch in alle weltpolitischen Ereignisse hineinmontiert. Und richtig, auf den Seiten 94f., 219, 221 finden wir: Gysi und Hitler.

Und jetzt ein Blick zurück - Inhaltsverzeichnis. Mal ehrlich: Wer will Kapitel lesen, die »Politik geht an die Substanz« oder »Wie ich aus dem Bundestag gedrängt werden sollte« heißen? Bremsen kann der Ich-Mensch sich allenfalls beim Krieg gegen Jugoslawien - weil nicht oft genug gesagt werden kann, dass die Regierung eine Saubande ist. Da hat »Ich« richtig gehandelt. Mensch, wie er zu Milosevic gereist ist, damals, 1999. Da hätte er fast die Welt gerettet.

Das aber wird überdeckt von einer schrecklichen Einheitsmuckelei, immer wieder das Thema Ossis & Wessis. Ja, die Menschen in Ost und West und das Zusammenwachsen. »Ein Buch zu schreiben fällt mir nicht leicht. Aber mein Weg hin zum und im vereinigten Deutschland war nicht nur in dem Sinne einmalig, wie jedes Leben einmalig ist, sondern meine Situation spiegelt in besonderer Weise die Kompliziertheit des Vereinigungsprozesses wider.«

Das mit dem Buchschreiben hätte man auch sein lassen können, es gibt schließlich schon das oberpeinliche Video »Freche Sprüche« aus dem Eulenspiegel-Verlag. Zudem: Wer fühlte nicht manchmal so: »Ich habe, wie mir in vielen Situationen deutlich wird, dazugelernt. Andererseits denke ich, dass ich insgesamt meinen politischen Überzeugungen, meinem Stil, meiner Kultur, meiner Art von Humor treu geblieben bin und dass vielleicht in dieser Treue eher als in irgendeiner Form von Anpassung die gewachsene Akzeptanz begründet liegt«? Aber muss man um diese Weisheit gleich ein ganzes Buch herum schreiben?

Aber der nächste Zwangsvereinigungsprozess, da hat er recht, steht sicherlich vor der Tür: der zwischen SPD und PDS. Da kann man nur Glück wünschen. Wozu noch Gerhard Schröder, der eigens ein paar SED-Schrippen als Tanten anheuern musste, wenn man das Original kriegen kann? Keine Frage, wer dieses Stück Gysitaria gelesen hat, ist überzeugt: »Ich« wird Bundeskanzler, daher auch die Konsens- und Reformsoße.

Schnell wird abgerechnet mit den alten SED-Bonzen. Die müssen sich auch zehn Jahre nach dem Mauerfall noch mal abwickeln lassen. Ohne Alternative ist das. Gysi: »Es gibt nichts Schwierigeres in der Politik, als eine unter Kritik stehende Entwicklung in dem Wissen einzuleiten, dass man eine schlimmere dadurch verhindert, ohne je beweisen zu können, wie die schlimmere ausgesehen hätte und ob sie tatsächlich eingetroffen wäre.« Morgen ist heute gestern - will sagen: Rechtfertigung der Treuhand-Politik mit den Worten eines weichgespülten PDSlers.

Da das Büchlein schon ein Weilchen raus ist, fragen wir nach den User-Gruppen. Da gibt's natürlich Journalisten, die das Buch gelesen haben. In der taz fand sich eine harsche Kritik des Gysi-Apologeten Jens König. Schlechter Stil, kann nicht schreiben, moniert der Fan - dabei dachte ich, König selbst hätte es geschrieben! Keine Frage, der Mann ist sauer. Gysi hat ihn nicht um Unterstützung angefragt. Auch die Berliner Zeitung meint: Gysi kann nicht schreiben. Na, wenn's weiter nichts ist: Manch schlechter Autor hat schon gute Leser gefunden.

Echt schockiert ist die Junge Freiheit: »Von Klassenkampf ist überhaupt nicht mehr die Rede. Der marxistische Grundgedanke, dass das Horror-Szenario die Realität der bürgerlichen Gesellschaft ist, gilt wahrscheinlich schon als 'Sektiererei'.« Wenn deutsche Kommunisten sich das schon von rechtsaußen anhören müssen, braucht man über die Markt- und Markenkompatibilität der PDS als linke, aber auch als Neue Mitte wohl kaum noch zu spekulieren.

Die Leute auf der Straße haben Gysis Buch aber gern - Gysi kann nicht schreiben? Na und, wir auch nicht: »Gysi malt mit seinen Worten. Das Buch ist so fantastisch geschrieben«, findet eine Leserin aus Zella-Mehlis auf der Rezensionsseite des Internet-Buchladens Amazon.com. »Ein empfehlenswertes Buch«, meint dort auch hensel-roederaue@t-online.de, der/die wohl nur selten mal bei Jens König in der taz vorbeisurft.

Im Internet ist Gysis Werk übrigens auch über die Seite CDU-Solidaritaet.de zu beziehen (»Bücher kaufen und gleichzeitig der CDU spenden, ohne dass es einen Pfennig kostet!«). Da steht es in einer Reihe mit Wolfgang Schäubles, Helmut Kohls, Florian Illies' oder Angela Merkels Ergüssen. Bzw. »Heyne Kompakt Info Fahrradreparatur« oder »Alles, was Sie über Aktien wissen müssen«.

Wo wir gerade bei Listen sind. Schön ist, dass Amazon eine Liste mit dem Namen »Kunden, die dieses Buch gekauft haben, haben auch diese CDs gekauft« führt. »Reveal« von R.E.M., na gut. An zweiter Stelle: »Mutter« von Rammstein. Dann »Reptile« von Eric Clapton, »Deutsche Schlager« von Manne Krug bzw. »Schlafstörung« von dito und »Best of Marius Müller-Westernhagen«. Marylin Manson schafft's immerhin auf den vorletzten Platz. Kann man mehr über deutsche Leser erfahren als von dieser Liste? Jammerpoppigkeit, Bück-dich-Philosophie, Aufdringlichkeit, Idiotensound mit einem Schuss Satanismus geht in ihren Köpfen um! Danke, Gregor Gysi, das haben Sie ermittelt.

Gregor Gysi: Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn. Hoffmann & Campe, Hamburg 2001, 387 S., DM 39,90