Verleihung des Adorno-Preises an Jacques Derrida

Der Reader

Jacques Derrida erhielt den Adorno-Preis der Stadt Frankfurt.

Mit dem Bekenntnis, er höre »seit Jahrzehnten (...) im Traum Stimmen«, leitete der französische Philosoph Jacques Derrida den Schlussteil seiner Dankrede zur Verleihung des Adorno-Preises der Stadt Frankfurt in der Paulskirche abrupt ein. »Es sind Stimmen in mir. Alle scheinen sie mir zu sagen: Weshalb solltest du nicht ein für allemal (...) die Verwandtschaften zwischen deiner Arbeit und der Adornos anerkennen, ja in Wahrheit die Schuld, in der du Adorno gegenüber stehst? Bist du nicht ein Erbe der Frankfurter Schule?« Von nun an werde er diese Stimmen nicht länger überhören können, ja er sei »heute glücklich«, zu seiner »Schuld gegenüber Adorno ðjaÐ sagen zu können und zu müssen«. Derrida rühmt Adorno als ein »einzigartiges Ereignis«, nicht zuletzt wegen des »unleugbaren Verdienstes«, die »Verantwortung angesichts all dessen wachgerufen zu haben, wofür Auschwitz der unaustauschbare Eigenname und die Metonymie bleiben muss«.

Es mag manche verwundern, dass Derrida sich nun in einer Filiation mit Adorno situiert. (Darf man vielleicht hoffen, dass jene sich auf Adorno berufenden antideutschen Banausen, die Derrida schon mal unter der Schlagzeile »Philosophie für Friedhofsschänder« subsumierten, vor Schreck der Schlag trifft?) In seinen Schriften, in denen er die philosophische Tradition von Platon bis Lévinas ausgiebig und erfindungsreich kommentiert, sind direkte Bezugnahmen auf Adorno äußerst selten und in ihrer argumentativen Tragweite eher nachrangig, so wenn er in »Rhétorique de la drogue« eine Passage aus der »Dialektik der Aufklärung« über die Lotophagen der »Odyssee« kommentiert.

Als Derrida 1998 von der Vielfalt der Filiationen, in denen er stehe und aus denen er schöpfe, als seinem »Problem« und seinem »Glück« sprach, fand Adorno noch keine Erwähnung. Auch in den Selbstpositionierungen am Ufer des marxistischen Traditionsstromes, in »Marx' Gespenster«, war von Adorno nicht die Rede. Wohl aber fiel an seiner Positionierung gegenüber seinem langjährigen Freund und Kollegen an der École Normale Supérieure, Louis Althusser, eine Differenzierung auf, die explizit auf Walter Benjamin verwies. Während nämlich die Althusserianer glaubten, man müsse den Marxismus von jeder Teleologie und jeder messianischen Eschatologie lösen, schlug Derrida vor, beides zu scheiden, um dann zwar nicht am Messianismus, wohl aber am davon strikt unterschiedenen Messianischen festzuhalten.

Seine Dankrede schrieb Derrida vor dem 11. September. Von einer Reise nach China zurückgekehrt, fügte er nur einige Sätze zu dem exterministischen Anschlag in den USA in die Rede ein und widerstand dabei der Versuchung, seine im letzten Jahrzehnt vorgelegten Reflexionen über so genannte Fundamentalismen (im Islam, im Christentum und anderswo) im Zeitalter von »Globalisierung« und weltweiter »Mundialatinisierung« und das, was er in »Marx' Gespenster« den »Krieg um die ðAneignung von JerusalemЫ (als heiliger Stadt dreier monotheistischer Religionen und dreier konkurrierender Messianismen) genannt hat, zu aktualisieren. Eine komprimierte Fassung dieser Überlegungen ist nachzulesen in seinem Aufsatz »Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der ðReligionÐ an den Grenzen der bloßen Vernunft«.

Gewitzt präsentiert sich Derrida, einen brieflich überlieferten Traum Benjamins kommentierend, zu Beginn seiner Dankrede als Träumer und Schlafwandler und als »Räuber, dem am Weg ein Preis in die Hände fällt, der nicht für ihn bestimmt war«. Den Vergleich entnimmt er bei Benjamin und Adorno. Über Benjamin schrieb Adorno: »Den Satz aus der Einbahnstraße, Zitate aus seinen Arbeiten seien wie Räuber am Wege, die hervorbrechen und dem Leser seine Überzeugung abnehmen, fasste er wörtlich auf«. Derrida bezieht dies auf sich: »Das sollten Sie über den wissen, den Sie heute mit einem großen Preis ehren, von dem er nicht recht weiß, ob er ihn verdient. Er ist auch einer, der stets Gefahr läuft - vor allem dann, wenn er zitiert -, Räubern am Weg mehr zu gleichen als ehrwürdigen Philosophieprofessoren.«

Auch mit seinen 71 Jahren und zu diesem feierlichen Anlass versteht Derrida es immer noch, sich - ironisch gebrochen, versteht sich, und nunmehr in beinahe unantastbarer Position - als Außenseiter und, mit den ungeschriebenen Verträgen des Zeremoniells spielend, als Störenfried zu präsentieren. An anderer Stelle trat der Wegelagerer der Philosophie auch schon mal als der erste Philosoph auf, der es wagte, seinen Penis zu beschreiben, oder schlüpfte in die Rolle des »Bastards«, des aufstörenden »Fremdkörpers« oder des »Parasiten«. Oder in die des titrier, der mit gefälschten Titeln hausieren geht. Darin mögen Erfahrungen des gesellschaftlichen Ausschlusses nachklingen, die Derrida als Jude von Kindheit an erfahren musste.

Derridas Schriften, die stets Texte anderer kommentieren, haftet immer ein mimetischer Zug an, zuweilen bis in den Stil hinein. In Frankfurt wählte Derrida die Form einer Liebeserklärung, um Adornos Denken zu charakterisieren: »Ich bewundere und liebe in Adorno jemanden, der nicht aufgehört hat, zwischen dem ðneinÐ des Philosophen und dem ðja, vielleicht, manchmal gibt es dasÐ des Dichters, des Schriftstellers oder Essayisten, des Musikers, (...) selbst des Psychoanalytikers zu zögern. Zögernd zwischen dem ðneinÐ und dem ðja, manchmal, vielleichtÐ hat er beider Erbe angetreten. Er hat dem Rechnung getragen, was am singulären Ereignis vom Begriff, ja von der Dialektik nicht begriffen werden kann; und er hat alles daran gesetzt, der Verantwortung gerecht zu werden, die ihm von dieser Erbschaft übertragen wurde.«

Diese Charakterisierung von Adornos Denken trifft auch, so verschieden die praktische Ausführung auch ist, auf Derrida selbst zu. Da er die Dekonstruktion als »Erfahrung des Unmöglichen« bestimmt, erkennt Derrida sich gerne in einem Grundzug aus Adornos »Charakteristik Walter Benjamins«: »Im Paradoxon der Möglichkeit des Unmöglichen hat bei ihm (Benjamin; A.S.) ein letztes Mal Mystik und Aufklärung sich zusammengefunden. Er hat des Traumes sich entschlagen, ohne ihn zu verraten und sich zum Komplizen dessen zu machen, worin stets die Philosophen sich einig waren: dass es nicht sein soll.« Derrida nimmt diese Kennzeichnung auf sich, doch sollte man dies nicht voreilig zum Anlass nehmen, ihn zum Mystiker zu erklären bzw. ihn in aufgeklärter Runde als Mystiker zu denunzieren; dagegen hat er sich wiederholt mit treffenden Argumenten verwahrt. Ihm geht es um das Zusammenfinden von Mystik und Aufklärung, das einem gewissen »Traum von einer Sache« (Marx) die Treue hält:

»Die Möglichkeit des Unmöglichen kann nur geträumt werden, sie kann nur als geträumte sein. Aber das Denken, ein ganz anderes Denken des Verhältnisses zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen, jenes andere Denken, dem ich (...) so lange schon nachsinne oder nachlaufe, (...) es hat zu diesem Traum vielleicht eine größere Affinität als die Philosophie selbst. Es gälte, erwachend nicht müde zu werden, über diesen Traum zu wachen.« Vielleicht ließe sich der letzte Satz auch umformulieren, gemäß der Wertschätzung der Kindheit, wie wir sie bei Adorno, Benjamin und Derrida nachlesen können: Es gälte, erwachsen werdend, dennoch nicht müde zu werden, über diesen Traum zu wachen, an ihm festzuhalten.

Derrida tut dies mit charmanter Frechheit. Die systematische Auseinandersetzung mit Adorno, für die der Rahmen einer Preisrede gewiss zu eng ist, verschob er auf ein »erträumtes Buch«. Wie man sich als Kind vielleicht ein enormes, nachgerade exorbitantes Buch erträumt hat, sind für dieses sieben Kapitel umfassende Buch u.a. zwei Kapitel vorgesehen, die er auf »etwa 10 000 Seiten« veranschlagt. Ernst und Spiel (oder Traum) sind hier schwerlich zu trennen, ginge es doch bspw. um eine »vergleichende Geschichte der französischen und deutschen Erbschaften von Hegel und Marx, der gemeinsamen und doch so unterschiedlichen Ablehnung des Idealismus und zumal der spekulativen Dialektik, vor und nach dem Krieg.«

Mit der Anerkenntnis, er sei ein »Erbe der Frankfurter Schule« und der angenommenen »Übertragung einer Verantwortung« hat Derrida also eine Dankesschuld auf sich genommen, die ihn unausweichlich in einer lebenslänglichen Schuldenfalle sitzen lässt. Das lange Leben, das man ihm wünschen mag, wird dennoch so kurz gewesen sein und nicht ausreichen, um das erträumte Buch zu schreiben. Andere werden in einer komplizierten Filiation folgen.

Jacques Derrida: Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der »Religion« an den Grenzen der bloßen Vernunft. In: Derrida/ Gianni Vattimo: Die Religion. Suhrkamp, Frankfurt 2001, 21,90 Mark