Der politische Islam in den arabischen Ländern

Reaktionäre Avantgarde

Der politische Islam kann in einigen Ländern als Offensive der alten Eliten gedeutet werden.

Auf welche Ursachen ist der relative Erfolg des Islamismus in einer Reihe von Ländern zurückzuführen, wenn man vom Scheitern des staatssozialistischen Modells absieht (Jungle World, 42/01)?

Einen klassenanalytischen Erklärungsversuch unternahmen Ende der achtziger Jahre Cheryl Bernard und Zalmay Khalizad in ihrem Buch »The Government of God. Iran's Islamic Republic«. Ihre Thesen zur Situation postkolonialer Gesellschaften sind mit einigen Abwandlungen auf eine Reihe von Ländern übertragbar: »Pseudo-moderne Eliten (...) sitzen an den Schalthebeln der Macht und arrangieren sich mit den Großmächten und dem internationalen System. Daneben aber existieren die traditionellen Eliten fort und behalten bedeutende Teile ihres Einflusses, sowohl materiell als auch kulturell und ideell. Während sie unter anderen Umständen als die Großgrundbesitzer, die rückständigen Traditionalisten und die privilegierten Eliten, die sie tatsächlich sind, bekämpft werden könnten, hat die Struktur der Nord-Süd-Beziehungen ihnen eine nationalistische und sogar revolutionäre Note verliehen. Heute streiten sie um die Restauration ihrer Macht und ihrer Privilegien, aber sie bedienen sich des Vokabulars der nationalen und kulturellen Befreiung und Selbstbehauptung und der entsprechenden Stimmung in der Bevölkerung.«

Diese knappe Darstellung resümiert auf ziemlich treffende Weise die Situation in einem Land wie Pakistan. Die dortigen alten, halbfeudalen Eliten haben nach der Unabhängigkeit von Großbritannien ihre angestammten Positionen weitgehend wieder eingenommen, die hier von der Kolonialmacht ohnehin nur in geringem Maße angetastet worden waren. Hinzu kommt, dass gegen Ende der vierziger Jahre die Teilung der ehemaligen Kolonie Britisch-Indien in Pakistan und die Indische Union die Rolle des Islam als staatsbegründendes und -erhaltendes Element verstärkt hat.

Politische Herrschaft und soziale Dominanz werden daher von den vorhandenen stockreaktionären Eliten unter Rückgriff auf den Islam als »identitätsstiftendes« Element legitimiert. Und die meisten Oppositionsgruppen trachten danach, die alten Eliten noch an Glaubenseifer zu übertreffen, um deren Legitimität anzukratzen. Daher rührt eine Vielzahl von Sekten und konfessionellen Konflikten.

Auch was die Genese der frühesten islamistischen Bewegung betrifft, der ägyptischen Muslimbrüder, kann von einer Offensive alter Eliten gesprochen werden. Die Bewegung, die sich in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts bildete, sammelte vor allem die einheimische Bourgeoisie und die Angehörigen traditioneller Mittelschichten um sich - Ärzte, Rechtsanwälte, Honoratorien. Ihnen ging es darum, die gesellschaftlich dominierende Stellung zurückzugewinnen, die ihnen wegen der ökonomischen und politischen Durchdringung des Landes von Seiten Großbitanniens abhanden zu kommen drohte. Zumindest die geistige Hegemonie sollte ihnen erhalten bleiben. Die Bewegung, die in den dreißiger Jahren unter Hassan El-Banna anwuchs und unter dem Staatssozialismus des nasseristischen Regimes eingedämmt wurde - ihr Führer Sayyid Qutb wurde 1956 hingerichtet -, strahlte bald in die arabischsprachige Welt aus und stellt heute eine eigene, kleine Internationale dar.

Im Falle Algeriens hingegen vermag dieser Ansatz die Situation nicht treffend zu beschreiben. Dort hatte seit langem ein Austausch der gesellschaftlichen Eliten stattgefunden, der es verbietet, den dortigen Islamismus einfach als Wiederkehr alter Eliten mit einer neuen Legitimation zu interpretieren.

Die Ursache dafür waren zunächst die Ergebnisse des Kolonialismus, der auf Algerien anders einwirkte als auf andere von den westlichen Großmächten unterworfene Länder. Denn Algerien wurde von Frankreich, dessen Herrschaft von 1830 bis 1962 dauerte, als Siedlungskolonie behandelt. Der größere Teil der alteingesessenen Eliten wurde zugunsten von Europäern enteignet.

Der größte Teil der Bevölkerung wurde aus seinen bisherigen sozialen Rollen herausgerissen und in das umgeformt, was der linke algerische Historiker Mohammed Harbi, in Anlehnung an einen Begriff aus dem antiken Rom, als »Plebs« bezeichnet hat. Damit meint er mehr oder minder verarmte und (sub)proletarisierte Menschen, die aber weder als Arbeiter noch als Bauern eine dauerhafte gesellschaftliche Stellung einnehmen, sondern als Hilfskräfte der Europäer - vom zeitweilig aktiven Landarbeiter bis zur Hausdienerin - beschäftigt werden.

Andererseits erhob das von Frankreich kolonisierte Algerien die Konfessions- und Sprachzugehörigkeit zum zentralen Identifikationskriterium. Hier findet sich bereits eines der Elemente des Diskurses, der später den Erfolg des Fis (Islamische Rettungsfront) zwischen 1989 und 1992 ausmachte, und in dem das Bekenntnis zum Islam und das Eintreten für die sozial Entrechteten fast synonym behandelt werden.

Ferner trug auch der Befreiungskrieg gegen Frankreich (1954 bis 1962) dazu bei, die überkommenen Eliten zu verdrängen. Denn gerade die Ulama, die Versammlung der konservativen muslimischen Geistlichen, fürchtete nichts so sehr wie eine weitere Erschütterung der herkömmlichen und vom Kolonialismus angegriffenen Sozialordnung durch eine Mobilisierung der »Plebejer«. Sie setzte vielmehr auf Ruhe und Ordnung, wozu die »Erziehung« im Sinne der Wiederentdeckung traditioneller »eigener Werte« hinzukommen müsse.

Mahfoud Nahnah, ein Mitglied der Internationale der »Muslimbrüder«, und seine Partei Hamas/ MSP stellen heute die traditionalistische, reaktionäre Variante des algerischen Islamismus dar, die mittlerweile auch an den staatlichen Institutionen beteiligt ist; die Partei Nahnahs ist seit 1997 in der Regierungskoalition in Algier vertreten. Ihr moralischer Diskurs und ihr Publikum unterscheiden sich erheblich von jenen des Fis, einer in der Form modernen Massenbewegung, die zeitweise in den Augen vieler als eine Art kollektiver Robin Hood der Armen erschien.

Die afghanischen Taliban sind insofern eine Ausnahme unter den islamistischen Bewegungen, da sie von Beginn an ihr Gesellschaftsmodell ausschließlich mit Gewalt durchsetzten. Die meisten erfolgreichen islamistischen Massenbewegungen hingegen haben durchaus Stützen innerhalb der Gesellschaft und eine ideologische Vermittlung, die es ermöglicht, dass relativ viele ihnen folgen können. Die Widerstrebenden werden hingegen oft mit Zwang und Gewalt zur Räson gebracht.

Die Taliban lassen sich vorrangig aus der Eigendynamik einer extrem autoritären Krisenverwaltung verstehen. Die nach dem Abzug der sowjetischen Armee sich gegenseitig bekriegenden Mudschaheddin-Gruppen - oft Vertreter alter Stammesstrukturen und lokaler Eliten - hatten das Land zwischen 1992 und 1996 dermaßen verwüstet, dass eine Bewegung, die mit äußerst harter Hand für Ruhe sorgen sollte, anfangs auf Zustimmung stoßen konnte. So etablierte sich eine rein autoritäre Gewaltherrschaft ohne größere Widerstände. Sie ist aber für den Erfolg islamistischer Bewegungen untypisch.