Sicherheit und Atomkraft

Sicher ist nur das Kraftwerk

Über die Atomkraft wird momentan nicht nur wegen befürchteter Terroranschläge diskutiert. Die Betreiber von Philippsburg haben auch ihren Teil dazu beigetragen.

Haben Sie sich auch schon einmal vorgestellt, die von Terroristen entführten Flugzeuge wären nicht in das World Trade Center, sondern in ein Atomkraftwerk gestürzt? Sehen Sie. Seit dem 11. September ahnt auch die Allgemeinheit, was vorher nur die Anti-Atom-Initiativen unermüdlich erklärt hatten: Nuklearfabriken, Reaktoren und Atommüll-Lager sind weder gegen terroristische Anschläge noch gegen Flugzeugabstürze zu sichern.

Von Seiten der Anti-Atomkraft-Bewegung wird nun die Stilllegung aller Atomkraftwerke gefordert. Wolfgang Ehmke von der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg etwa bezeichnet Atomkraftwerke als ein »geradezu ideales Ziel für Terrorgruppen«. Andere, wie der niedersächsische Umweltminister Wolfgang Jüttner (SPD), wollen nun ältere Reaktoren schneller als bisher geplant vom Netz nehmen. Die Reaktorsicherheitskommission des Bundes hatte Mitte Oktober erklärt, dass es fraglich sei, ob diese älteren Reaktoren einem gezielten Angriff mit einem Verkehrsflugzeug standhalten würden. Und die neueren? Wer weiß.

Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Grüne) will mit den Betreibern von Kernkraftwerken über eine weitere Verkürzung der Laufzeiten für ältere Reaktoren sprechen, »wenn die rechtliche Grundlage dafür vorliegt«, also erst nach der Verabschiedung der Atomgesetznovelle, die den jahrezehntelangen Weiterbetrieb von Atomkraftwerken in Deutschland ermöglicht. Der Umweltausschuss des Bundestages wird sich am 5. November mit der Novelle befassen. Die Atomindustrie aber hat schon einmal angekündigt, die Restlaufzeiten auf keinen Fall neu zu verhandeln. »Das will keiner«, sagte das Vorstandsmitglied des Energiekonzerns Eon Energie, Walter Hohlefelder, der Berliner Zeitung. Auch beim Essener Stromkonzern RWE sieht man das so.

Der Vorschlag, ähnlich wie bei der französischen Wiederaufarbeitungsanlage La Hague, rund um die gefährdeten Objekte Flugabwehrraketen zu stationieren, wurde ebenso schnell wieder ad acta gelegt wie er unterbreitet worden war. In der Bundesrepublik befinden sich nahezu alle Reaktoren direkt unterhalb wichtiger Luftverkehrsstraßen oder in der Nähe großer Flughäfen. Die Differenzierung zwischen normalen Kursabweichungen und vermeintlichen Selbstmordattentaten wäre schwierig bis unmöglich.

Angesichts dieser Debatte drängt sich der Eindruck auf, es gehe dabei gar nicht so sehr darum, der jetzt entdeckten Gefahr wirklich abzuhelfen, sondern darum, die Bedrohung an sich festzustellen. Das Thema passt perfekt zum derzeit heraufbeschworenen Klima der Angst, die möglicherweise drohenden Attentate auf Atomkraftwerke ergänzen optimal die Milzbrandpanik und die Schläferhysterie.

Das erinnert an das Szenario, welches Robert Jungk in seinem Buch »Der Atomstaat« beschrieben hat. Weil ein Terroranschlag auf eine Atomanlage verheerende Folgen hätte und weil eine Atomanlage in einer demokratischen, offenen und freiheitlichen Gesellschaft nicht hundertprozentig zu schützen ist, muss ein Land, das die Atomkraft nutzen will, sich früher oder später entscheiden, ob es ständig mit der Möglichkeit eines Anschlages leben will oder seine Freiheitsrechte massiv einschränkt.

Unter den AktivistInnen der Anti-Atomkraft-Bewegung ist derzeit allerdings durchaus umstritten, ob man die neue Angst vor den Reaktoren für das Ziel einer schnellen Stilllegung nutzen soll, etwa bei der Mobilisierung gegen den Mitte November erwarteten Castor-Transport nach Gorleben. Unter dem Titel »Ein Land, das solche Ingenieure hat, braucht keine Selbstmordattentäter mehr« veröffentlichte die Marburger Anti-Atom-Gruppe »anna liese« einen Debattenbeitrag, in dem sie davor warnt, dem Wahn der inneren Sicherheit zu erliegen und die Angst vor dem islamistischen Terror zu schüren. Viel wahrscheinlicher als ein Anschlag von Islamisten sei angesichts der Ereignisse im Atomkraftwerk Philippsburg, dass »ein adretter, gut rasierter und loyaler Ingenieur einen Gau herbeiführt«.

Das ist nicht übertrieben, wurden in dem badischen Reaktor doch seit seiner Inbetriebnahme vor 17 Jahren elementare Sicherheitsbestimmungen nicht eingehalten. Wie erst jetzt bekannt wurde, wurden beim Anfahren des Kraftwerks regelmäßig sowohl die Borsäurekonzentration als auch die nötigen Füllstände der Flutbehälter für die Notkühlung deutlich unterschritten. Bei einem Störfall hätte die Kettenreaktion im Reaktor nicht gestoppt werden können, es wäre zur Kernschmelze und somit zum Gau gekommen. Auf ähnliche Weise wurden auch in anderen Reaktoren der Betreibergesellschaft Energie Baden-Württemberg (EnBW) die Sicherheitsbestimmungen ignoriert. Gemerkt haben wollen es weder die AufsichtsbeamtInnen aus dem Stuttgarter Umweltministerium noch die externen Gutachter vom Tüv.

Von den verantwortlichen Technikern, den Vorstandsvorsitzenden der Konzerne, den Ministern und Tüv-Prüfern hört man jetzt wieder die gleichen Sprüche, die sie schon dutzendmal bei früheren Skandalen bemüht haben: Jetzt wird alles sicherer, jetzt werden die Vorschriften verschärft, jetzt wird häufiger geprüft, jetzt wird besser ausgebildet etc. Die Vorsitzende des Innenausschusses im Bundestag, Ute Vogt (SPD), etwa verlangte von den Bundesländern, nur noch »tatsächlich unabhängige Gutachter und Experten« mit den Kontrollen zu betrauen. Außerdem forderte sie - wie es in solchen Fällen üblich ist - den Rücktritt des baden-württembergischen Umweltministers Ulrich Müller (CDU). Bei jedem größeren Störfall müssen einige Verantwortliche persönliche Konsequenzen ziehen, damit danach alles wieder seinen gewohnten Gang gehen kann.

Deutlich wird an diesem Vorgang auch die doppelte Moral der aktuellen Sicherheitsdebatte. Wenn die Rechte des Einzelnen eingeschränkt werden sollen, um angeblich den Terrorismus zu bekämpfen, dann ist die Bundesregierung kaum zu bremsen. Geht es aber um die körperliche Unversehrtheit weiter Teile der Bevölkerung, dann haben die wirtschaftlichen Interessen der Atomindustrie Vorrang. Der Umweltminister darf zwar einige starke Worte verlieren, und ein Block des AKW Philippsburg bleibt eine Zeit lang vom Netz, aber alle anderen Reaktoren der EnBW laufen weiter, als wäre nichts gewesen.

Wenn nun Mitte November der Castor-Transport aus der WAA La Hague ins niedersächsische Wendland fährt, dann zeigt sich diese doppelte Moral noch einmal. So bedroht scheint Deutschland vom islamistischen Terror eben doch nicht zu sein, die Castoren jedenfalls müssen rollen.

Wenn Jürgen Trittin demnächst wieder behaupten sollte, dass der Rücktransport von Atommüll aus Frankreich nach Gorleben notwendig sei, weil »wir« den NachbarInnen in Frankreich doch nicht »unseren« Atommüll aufbürden dürften, dann kann die Anti-Atom-Bewegung dies getrost als Propaganda bezeichnen. Sie hat gemeinsam mit FreundInnen aus Frankreich ihr Versprechen eingelöst, nicht nur bei Transporten nach Gorleben zu demonstrieren, sondern auch die Transporte von hiesigen Atomkraftwerken ins Ausland zu behindern.

Kein Castor-Transport konnte reibungslos vonstatten gehen. Jedesmal mussten mehrere tausend BeamtInnen von BGS und Polizei das Schienennetz der Bahn sichern. Statt wie vorgesehen 91 Behälter konnten in diesem Jahr bisher nur 39 abtransportiert werden, und es gibt Hinweise darauf, dass nach dem nächsten Transport nach Gorleben erstmal eine Pause bis Februar eingelegt wird, weil die Polizei in dieser Zeit die Transporte des Euro schützen muss.

Somit könnte es der Anti-Atom-Bewegung gelungen sein, mehr als die Hälfte der für 2001 geplanten Atommülltransporte zu verhindern. Das ist keine schlechte Bilanz, wenn man bedenkt, dass in den neunziger Jahren der strahlende Abfall in Regelgüterzügen mit zwei BGS-Beamten auf der Lok heimlich, still und leise durchs Land rollen konnte.