»The Man Who Wasn't There« von Joel und Ethan Coen

Der amerikanische Fremde

»The Man Who Wasn't There« von Joel & Ethan Coen ist ein großartiger Film.

Dass die Coen-Brüder handwerklich perfekte und stilsichere ironische Variationen klassischer Filmgenres drehen, ist hinlänglich bekannt und inzwischen ein Gemeinplatz, der in gängigen Filmlexika und Kritiken selten fehlt. Zumeist wird das mit dem Hinweis verbunden, dass die glänzend-abweisende Oberfläche ihrer Werke von einer bisweilen fehlenden Handlungslogik und einer comicartigen Überzeichnung der Figuren nicht ablenken könne. Bei aller cineastischen Fingerfertigkeit und Trickserei drehten die Coens sich im Kreise ihrer Cinephilie und könnten nichts anderes, als ihre Lieblingsgenres abzuschreiten, ohne dabei die Schwelle zu echten Emotionen und Charakteren oder gar zur politischen Welt jenseits des Nachbarschaftskinos ihrer Jugend zu überschreiten.

Okay, hier und da blitze die echte Welt auf, handelte »Barton Fink« doch von der Korruption des sensiblen Künstlers im Mahlstrom der Filmindustrie, und in »Fargo«, endlich, habe man mit Frances McDormand den ersten vollwertigen Charakter eines Coen-Films, mit dem man ernsthaft mitfühle, weil seine leichte Schrulligkeit mehr sei als ein dienendes Konstruktionselement innerhalb der größeren Dramenmechanik und Absurdarchitektur des Filmwerks.

Doch am Ende mündeten solche Wirklichkeitselemente dann doch nur in einen Mätzchen-Surrealismus oder in groteske Blutorgien, und die beinahe menschliche Erzählung gehe wieder ein in die Abgeschlossenheit der hermetischen ästhetischen Gegenwelt.

Solch eine Kritik an den Coen-Filmen hat zwar einiges von ihrem Wesen, aber wenig von ihrer Bedeutung verstanden. Ganz und gar nicht anwendbar ist sie auf Coens »The Man Who Wasn't There«, ihrem mit Sicherheit kompaktesten und luftdichtesten Film, der daher selbst Coen-Freunde ratlos ließ. Als langweilig wurde er befunden, und selbst ein Fan wie Fozzie Bear von Aint-it-cool-news.com (ein Kumpel von Instant-Großkritiker Harry Knowles, und wer dort nicht regelmäßig nachguckt, um original amerikanische Reaktionen auf gerade eben bzw. noch nicht mal gestartete Filme mitzukriegen, der hat selber Schuld) musste erstmalig passen: Die Hochglanz-Schwarzweißfotografie (wie gehabt Roger Deakins) und die ganze mise en scène seien zwar atemberaubend, die Persönlichkeit der Hauptfigur aber so weit reduziert, dass an deren Schicksal niemand mehr Anteil nehme, weshalb der Film einfach gefällig durchrausche, ohne dass von der Erzählung etwas hängen bleibe. Angemerkt sei, dass Knowles, wie erwartet, von dem Film begeistert war.

Der Reihe nach. Der Film ist stilistisch, thematisch und atmosphärisch explizit dem Film noir verpflichtet und zugleich der Welt von James M. Cain, einem der wichtigsten Story-Lieferanten des Hardboiled- Kinos, das bevölkert war von moralisch verlotterten Helden und trübseligen Existenzen. 1949, Santa Rosa, Kalifornien, Sonnenlicht durchflutet das Örtchen, doch aus verschobener Perspektive fallen tiefe Schatten auf die Stadt. Ed Crane (Billy Bob Thornton) ist Friseur im Laden seines Schwagers, ein, wie er meint, krisenfester Job, denn die Haare des Menschen, glaubt er, wachsen ewig. Stoisch bewegt er sich durchs Leben und verzieht keine Miene, nicht mal, als ihm dämmert, dass seine Frau Doris (Frances McDormand) und ihr Chef Big Dave (»Tony Soprano« alias James Gandolfini) sich verdächtig gut verstehen. Erst als ihm ein Kunde namens Tolliver (Jon Polito), ein Handelsreisender in Finanznot, von seinem Traumgeschäft erzählt - dem hypermodernen Geheimtip Trockenreinigung - wird Ed aktiv. Anonym fordert er die benötigten 10 000 Dollar von Big Dave, anderenfalls werde er dessen Affäre mit Mrs. Crane publik machen.

Treffer! Die beiden haben in der Tat eine Affäre, und Big Dave ist nicht gewillt, sie öffentlich zu machen, er zahlt, Ed trägt das Geld zu seinem neuen Geschäftspartner. Jetzt könnte alles seinen ruhigen Gang gehen: Mit einer kleinen unschuldigen Erpressung hätte Ed sich an Dave gerächt und dabei auch noch einen guten Zweck verfolgt, denn die Wirtschaft würde mit seinem neuen Geschäft angekurbelt und der technische Fortschritt könnte triumphieren. Doch Big Dave bekommt heraus, dass Ed der Erpresser ist und schmiedet eine Intrige, er verwickelt ihn in ein tödliches Handgemenge. Die Situation eskaliert, Dave endet mit einem Messer im Hals, das der hilflose Ed in Notwehr ergreifen konnte. Ed, unschuldig und schuldig zugleich, schweigt über die Ereignisse, mit dem Ergebnis, dass schließlich seine Frau des Mordes an ihrem Geliebten angeklagt wird und in Haft Selbstmord begeht. Was Ed mit demselben ungerührten Gesicht quittiert wie die Tatsache, dass er selber kurze Zeit später unter Mordverdacht steht und festgenommen wird.

Ebenso ungerührt geht er diesen Weg weiter, auch als er sein Haus verpfänden muss, um einen schmierigen Staranwalt für ein kurzes und folgenloses Gastspiel zu engagieren. Wie Albert Camus' Fremder sieht er seiner eigenen Geschichte als Zuschauer zu. So teilnahmslos wie dieser den irgendwie entrückt-zufälligen Mord an einem Araber, den Prozess und schließlich seine eigene Hinrichtung erlebt, wohnt Ed seiner eigenen katastrophischen Geschichte bei.

Das Verstörende an »The Man Who Wasn't There« ist, dass man die ganze Entwicklung, die für Ed scheinbar nichts weiter als eine Abfolge von Ereignissen ist, einer provinziellen Dumpfheit zuschreiben könnte, wäre da nicht die Episode mit Birdy, jener halbwüchsigen Tochter eines Freundes, von deren musikalischen Talenten Ed so beeindruckt ist, dass er alles, was ihm zur Verfügung steht, in ihre Ausbildung stecken möchte. Er fährt mit ihr nach San Francisco zu einem teuren Lehrer, der die Ausbildung des Mädchens allerdings ablehnt. Die weder von Eds Zuwendung noch von der Zurückweisung des Lehrers sonderlich gerührte Birdy bedankt sich trotzdem auf eine so frühreife wie unorthodoxe Art, dass Ed samt Auto wieder aus der Bahn geworfen wird und im Krankenhaus in seiner gewohnten Immobilität erwacht.

Unklar ist, was Ed mehr erschüttert - dass er beinahe den Tod des Mädchens mitverschuldet hätte oder dass Birdy die Faszination, die er für sie verspürt, derart missverstehen und zuletzt auf ein Niveau herunterdeuten konnte, das ebenjene Gemeinschaft charakterisiert, der er sich immer durch Nicht-Teilnahme entzieht. Dass Birdy dachte, er wolle lediglich mit ihr schlafen, ist ein weiterer Anlass seiner unausgesprochenen ständigen Nausea. Die manische Flucht in die Rolle des Mentors einer vermeintlich unschuldigen Jugend steigert nur die Fallhöhe, aus der herab Ed zurück in die Depression des alltäglichen Lebens rutscht, wo er nicht gleichgültig oder nur tumb, sondern genauer: detached, seltsam abgelöst, teilnimmt. Möglicherweise, weil er sonst von dessen Realitäten erfasst und nur noch tiefer runtergerissen würde. Das existenzialistische Moment in diesem Film unterscheidet sich deutlich von dem des klassischen Film noir: Es ist nicht die Erkenntnis verschaffende Aufdeckung einer Lebenslüge oder eines Mordes, die dem Protagonisten seine Distanz zur Welt beibringt. In Eds Universum gibt es nichts mehr geradezurücken oder klarzustellen; es ist die normal gewordene, gleichsam physiologische Verfassung der Welt, nicht mehr deren pathologische Version, die ihn abstößt.

Man denkt an all die schwarzweißen Helden bei Fritz Lang, bei Alfred Hitchcock, die ohne Schuld in eine teuflische Maschinerie der Justiz, der Leidenschaft oder der selbstlaufenden Dramatik geraten, aus der sie gezeichnet wieder herauskommen. Das vielleicht wichtigste Vorbild für die Imago Ed Cranes ist das melancholisch-verständnislose Gesicht des unschuldig verdächtigten Henry Fonda in Hitchcocks »Der falsche Mann«, der, nachdem schließlich der wirkliche Mörder gefunden ist, seine Frau in der Irrenanstalt besuchen muss. Doch es gibt einen gravierenden Unterschied. Zwar wird Ed zur Rechenschaft gezogen für eine Tat, die er nicht begangen hat, doch ist er weder schuldlos in den Teufelskreis hineingeraten, noch kommt er mit einer Blessur davon wie Henry Fonda, dessen Frau laut Abspanntext wieder völlig geheilt werden konnte.

Mit ihrer genialen Handlungskonstruktion kehren die Coens von ihrem Genreeklektizismus zurück zu der Matrix, die zum Entstehen und Vergehen ihrer geliebten Genres beitrug, nämlich zur gesellschaftlichen Realität und ihrer Selbstverständigung in Bildern und Erzählungen, sei es in eskapistischer Ablenkung von Depression und Krieg, sei es in grimmiger Verdeutlichung öffentlich verwischter Verquerungen des Kapitalismus, seiner Ordnungsmechanismen und Massenpsychologie.

Genres in ihrer thematischen wie stilistischen Geschlossenheit stellen einen jeweils charakteristischen semantischen Apparat bereit, mittels dessen distinkte Bereiche des Lebens verhandelt und auf ihren Begriff gebracht werden. Damit entsteht eine Art ikonischer Begriff, der als nicht-diskursiv-sensueller gerade in der Zerstreuung seine Adressaten findet und dessen Wahrheit sich im Zuspruch des Publikums erfüllt.

So griffen die Coens nicht nur auf die Ikonografie ihrer Genres zurück, vor allem der der dreißiger und vierziger Jahre, sondern auch auf die Tendenz dieses Kinos, seine Zeit in Bilder zu fassen. Dass der historische Kontext, aus dem heraus das Kino entstand, das den Coens zum Vorbild dient, ein anderer war, führt vielleicht zu dem Missverständnis, die Coens spielten nur im selbstreferenziellen Raum herum. Dabei handeln sie doch ebenso von der Gegenwart wie andere Regisseure der Gegenwart, wenn auch im Duktus ihres spezifischen mythischen Universums. So erzählten sie im Medium des Gangsterfilms vom Verfall der politischen Sitten in einer Welt, in der die Mafia nicht als das Böse an sich, sondern als ihr düsterer Doppelgänger erscheint (»Miller's Crossing«), im Medium der Screwballkomödie von der Kollision kapitalistischer Machtarchitektur mit der zersetzenden Kraft ihrer vermeintlichen Trümpfe (»The Hudsucker Proxy«) oder im Medium der Slapstickkomödie von der Erwartungslosigkeit gealterter Kämpen, die, statt wie einst ihre Lebensentwürfe gegeneinander durchsetzen zu wollen, heute nur noch im gemeinsamen Bowling Erfüllung finden (»The Big Lebowski«).

Statt äußere Verhältnisse in die Eigendynamik des Kinos hereinzunehmen und dort dramatisch und emotional aufzuputzen, lassen sie diesen Kräften von einer vorgegebenen Startposition aus einfach freien Lauf und sehen dann, ob die Außenwelt sich in dieser Dynamik wiederfindet.

Diese weniger explizite als inhärente Aussagekraft, bisher in variierender Deutlichkeit und Absicht verfolgt, ist nun ausgerechnet und gleichzeitig logischerweise im wohl hermetischsten und düstersten Coen-Film auf die Spitze getrieben. Schwarzweiß, so als müssten die Dinge sich erst mühsam aus dem Dunkel ins Licht bewegen, und mit einer dramatischen Konsequenz, die der Coen-typischen Parade skurriler Figuren und Begebenheiten einen fatalistischen Zug unterlegt, entrollt »The Man Who Wasn't There« die Passionsgeschichte seines Helden, dem die Mischung aus guter Absicht, verkannter Eigenschuld und unbedarfter Passivität zum Verhängnis wird.

Ed erfährt ein Schicksal, das er im Gegensatz zu uns allen, die wir uns widerwillig in ihm wiedererkennen, mit klassisch-heroischer Verantwortung auf sich nimmt. Oder auch nur gleichgültig und antriebslos über sich ergehen lässt, je nachdem, ob wir hinter seinem Gesicht ein abwesendes oder ein metaphysisch überhöhtes Rechtsempfinden vermuten wollen.

»The Man Who Wasn´t There«, USA 2000. Buch und Regie: Joel und Ethan Coen. Start: 8. November