Wir sind da

Der Kriegseinsatz in Afghanistan vollendet die Normalisierung Deutschlands. Für die Vergangenheit interessiert sich niemand mehr.

Wer jetzt nicht mitmacht, darf fortan nicht mehr mitreden. Und was eine »europäische Zentralmacht mit ordnungspolitischem Anspruch« (FAZ) werden will, hat darauf zu achten, dass die Nato im Ernstfall nicht nur aus den USA und Großbritannien besteht.

Doch wir Deutschen mussten wieder einmal zu unserem Glück überredet werden. Seit Jahren lesen wir von der Ungeduld der europäischen Nachbarn und der USA, die uns abverlangen, was wir im eigenen Interesse und nach den Maßgaben der Vernunft wollen sollten, was wir uns aber nicht zu wollen trauen. Sie erwarten von uns, endlich Verantwortung zu übernehmen, ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln, das unserer wirtschaftlichen Stärke entspricht, aufzutauchen aus der Versenkung in die eigene Geschichte, Patrioten zu werden wie alle anderen auch und schließlich den Krieg wieder zu einem legitimen Mittel deutscher Politik zu machen. Wer sein Interesse nicht deutlich ausspreche und gegen die Interessen anderer durchzusetzen versuche, heißt es, dem misstraue man.

Vor zehn Jahren, während des Golf-Kriegs, war Kanzler Helmut Kohl noch nicht normal genug, die Beistandswünsche der USA mit militärischen Mitteln zu erfüllen; aus historischen Gründen musste er zum inzwischen sprichwörtlichen Scheckbuch greifen. Wenig später ermahnte ihn der bereits etwas normalere Bundespräsident Roman Herzog, die Zeit des Trittbrettfahrens sei vorbei. Deutschland müsse wieder »als Subjekt der Weltinnenpolitik handeln«, weshalb »möglicherweise auch einmal der Einsatz von Leib und Leben gefordert« sei. Diese unerhörten Worte verstanden damals nur die Zyniker, alle anderen glaubten, wenn wider alle Erwartung doch noch einmal Krieg sei, brauchten sie nicht hinzugehen. Und als Generalinspekteur Klaus Naumann noch einen draufsetzte und ankündigte, die Bundeswehr, zur Selbstverteidigung im Kalten Krieg geschaffen, werde demnächst beispielsweise auch den deutschen Anspruch aufs arabische Öl verteidigen, und zwar in der ganzen Welt, erinnerte er die Zivilgesellschaft, die sich soeben ein Lätzchen vorgebunden hatte, um die Friedensdividende zu verzehren, aufs Unangenehmste ans Jahr 1914. Unsere Parlamentsarmee soll einen ganz gewöhnlichen schmutzigen Krieg führen, womöglich mit den klassischen imperialistischen Zielen? Da stehen wir doch auf und sagen: Nein! Oder bleiben sitzen und tun, als hätten wir nichts gehört.

Das nationale Interesse hatte es damals noch schwer, erst als es sich hinterm Menschenrecht versteckte, wurde es erlöst. Hitler hatte es in Verruf gebracht, nun brauchte es einen anderen Hitler und den Widerstand gegen ihn, um sich allmählich zu rehabilitieren. Und als der andere Churchill kam, da hieß er Joseph Fischer.

In der taz beschrieb Stefan Reinecke diesen Vorgang neulich so: »Ein Motor der Vergangenheitsbewältigung war stets der Verdacht, dass die reibungslose Integration der Eliten der NS-Zeit ein fortwirkender Geburtsschaden der Demokratie ist, dass den Konservativen und 'dem Staat' jede Verdrängung zuzutrauen war. Als Rot-Grün 1998 die Macht übernahm, war diese Mechanik ausgesetzt. Mit Fischer und Schröder begann symbolisch jene Generation zu regieren, die durch den bundesrepublikanischen Antifaschismus geprägt war. Nur Rot-Grün konnte die Beteiligung am Kosovo-Krieg so reibungslos durchsetzen. Nur eine über jeden Zweifel der Verdrängung erhabene Regierung konnte wirksamer Agent der Normalisierung werden.«

Die Beteiligung der Bundeswehr am Krieg gegen die Terroristen mag zwar schon deshalb keine weitere Geschichtsdebatte ausgelöst haben, weil die Wehrmacht nicht bis nach Afghanistan kam und weil niemand in Ussama bin Laden einen dritten oder fünften Hitler identifizieren mochte. Grenzenlos, in der Zeit wie im Raum, reicht allein die Antwort auf Reineckes rhetorische Frage, ob irgendjemand noch einen Grund habe, »die militärische Normalisierung Deutschlands zu fürchten«. Nein, nie, niemand. Jedenfalls bis heute keiner außer den Serben. Und »das ist Indiz eines fundamentalen Umbruchs: Die Nachkriegszeit ist endgültig vorbei. Was am 9. November 1989 begann, ist jetzt vollendet: die Normalisierung Deutschlands. Damit ist auch die rhetorische Nutzung der NS-Zeit stillgelegt. Das geräuschlose Verschwinden der NS-Zeit aus der politischen Tagesaktualität wäre ohne Rot-Grün nicht möglich gewesen.«

Zwar waren ihre Nachbarn in der Nachkriegszeit vor den Deutschen sicherer als heute, zwar konnte das Prisma des Nationalsozialismus die deutsche Beteiligung an einem Krieg zu Zeiten Kohls verhindern und zu Zeiten Fischers begründen, fest steht trotzdem, dass es nun zu nichts mehr taugt.

Die deutsche Beteiligung am Krieg gegen Afghanistan wird also ohne jeden historischen Vorbehalt erwogen. Außer der viel zitierten uneingeschränkten Solidarität mit den USA ist jetzt vor allem ein weiterer Beweis der deutschen »Bündnisfähigkeit« vonnöten, bevor sie ersetzt wird vom Willen, notfalls auch ohne das Bündnis auszukommen. Eine europäische Streitmacht unter deutscher Führung lässt sich nur schwer aufbauen, wenn man die USA und Großbritannien allein Krieg führen lässt.

Gegen einen Einsatz der Bundeswehr spricht außer einigen prinzipiellen pazifistischen Argumenten, die man getrost vernachlässigen kann, vor allem die Gefährdung der guten Beziehungen zu den arabischen Staaten. Israel, das im Golf-Krieg noch vor den Angriffen Saddam Husseins geschützt werden musste, spielt heute keine Rolle mehr. Seine Existenz ist nur noch lästig, denn sie dient Ussama bin Laden zur Begründung seiner Untaten. Zwar gab der Bundeskanzler zu bedenken, selbst »wenn wir (!) morgen den Nahostkonflikt gelöst hätten, wäre das Problem des islamistischen Terrorismus mitnichten gelöst«. Und Außenminister Fischer widersprach im Bundestag der Behauptung, Israel sei schuld am Terrorismus.

Interessant war jedoch vor allem die Liste all der Missstände, an denen Israel nicht schuld sei. »Ich halte dies für eine verantwortungslose These, weil Israel an der Invasion der Sowjetunion in Afghanistan nicht schuld gewesen ist. Israel ist am Kaschmir-Konflikt nicht schuld. Israel ist an den innenpolitischen Problemen auf der arabischen Halbinsel und in anderen Staaten nicht schuld. Israel ist an der Katastrophe von Algerien nicht schuld. All das muss man wissen. Auch muss man wissen, (...) dass Israel seit seiner Gründung in der arabischen Welt instrumentalisiert wird.« Man kann also seinem Außenminister durchaus zustimmen und trotzdem mit Antje Vollmer dafür Verständnis aufbringen, dass alle schwer gläubigen Muslime die Besetzung ihrer heiligen Stätten als »Urtrauma« erlebten.

Das schlagende Argument für eine Kriegsbeteiligung der Deutschen ist und bleibt aber die notorische amerikanische Dummheit. Die USA seien »gegenwärtig zu den am schlechtesten beratenen Akteuren der Weltpolitik zu zählen«, meinte in der taz einer, der aber wohl aus Prinzip gegen den Krieg ist. Dennoch scheint der Kriegsminister Rudolf Scharping diese Ansicht zu teilen, denn seine Beteuerung, Deutschland ziehe auch deshalb in den Krieg, um Einfluss auf die Strategie zu gewinnen, setzt die Gewissheit voraus, dass die Regierung Bush eines solchen Einflusses bedarf. Wie der Rat der Deutschen lauten könnte, deutete ein Kommentator des Tagesspiegel an: Ob es vernünftig sei, an einem Krieg mitzutun, hänge davon ab, ob er gewonnen oder verloren werde. Dieser werde womöglich gewonnen, jedenfalls in Afghanistan. Wenn aber »die USA wegen mangelnder Erfolge in Afghanistan den Krieg nach Irak ausdehnen sollten, dann, ja dann ändert sich alles«. Die Aussage wendet sich wohl vor allem an die arabischen Staaten, mit denen Deutschland einen »kritischen Dialog« führt: Wir kämpfen zwar an der Seite der Amerikaner, sorgen aber dafür, dass sie nicht auch noch einen Krieg gegen euch anfangen.