»Das Geheimnis« von Virginie Wagon

Das Unglück schweigt

»Das Geheimnis« von Virginie Wagon ist ein Film über die Begabung der Frau zum Seitensprung.

Wenn sich Marie und Bill das erste Mal gegenüberstehen, merkt man fast nichts von der Faszination, die die beiden füreinander empfinden. Sie könnten kaum gegensätzlicher sein. Marie (Anne Coesens) ist groß, elegant, dunkelhaarig und weiß. Bill ist ein Riese, leger gekleidet, mit ausladenden Schultern und schwarz. Wenn Marie mit ihrem Aktenkoffer und dem kleinen Notizblock in der Hand vor der Holztür zu Bills Atriumhaus steht und wartet, dass geöffnet wird, nimmt sie schnell noch ein paar Züge aus ihrer Zigarette. Marie ist Vertreterin für den französischen Brockhaus und auf dem Weg zu ihrem nächsten Hausbesuch. Nichts an ihr erinnert an eine Vertreterin. Kultiviert und eloquent, kann sie sich gut in die Lebenswelt und die Erwartungen ihrer Kunden hineinversetzen. Das sieht man, wenn sie mit einer Kundin verhandelt.

Marie verkörpert vollkommen den Typ des unauffälligen »Easy Go Lucky«: jung, erfolgreich, verheiratet und Mutter eines süßen kleinen Jungen. Als sie bei einem ihrer Hausbesuche Bill begegnet, irritiert sie dessen ungewöhnliche Ausstrahlung. Marie ist die treibende Kraft, und doch verliert sie durch die Beziehung fast die Kontrolle über ihr Leben.

Patrice Chéreaus »Intimacy« und Catherine Breillats »Romance« fallen einem ein, aber Virginie Wagon will ihr Publikum nicht schockieren. Leidenschaft und große Gefühle brodeln in den Bildern eher unterschwellig . Die Sexszenen verbergen pornografische Details und zeigen genug, um voyeuristisch zu stimulieren, so wenn sich Bill zum Cunnilingus in Maries Schoß beugt und kein Schamhaar zu sehen ist. Die Szene, in der Marie Bill verführt, ist gestaltet wie ein kühler Striptease, und als das Eis gebrochen ist, geht alles leicht und unkompliziert, als handele es sich um die Schilderung von Maries Alltag: Marie bei der Arbeit, Marie zu Hause mit Mann und Sohn, Marie bei ihrem Chef, Marie mit ihrem Mann und Freunden auf dem Tennisplatz, Marie mit ihrer Mutter in einem Café. Und im Wechsel von Alltagssituationen und Sexszenen wird der erotische Bogen mächtig gespannt.

Virginie Wagons Film unterscheidet sich von Filmen wie »Intimacy« und »Romance« und folgt nur bedingt dem Trend der an Sex und Erotik interessierten Filme. Wie die Mixtur aus Leidenschaft, Sex und Liebe das Parallelogramm der Kräfte einer scheinbar glücklichen Kleinfamilie ins Trudeln bringen kann, ist das Thema des Films. »Das Geheimnis« ist weniger anstößig, die Bilder sind weniger künstlich und krass als in Catherine Breillats »Romance«. Catherine Breillat, die lediglich die visuellen Stereotypen des Mainstream-Kinos, das den weiblichen Körper als Schauobjekt und Objekt der Begierde benutzt, konterkariert, lässt ihre Protagonistin, ebenfalls eine Marie, ihrem unerfüllten Bedürfnis nach Sex in einem unterkühlten Ambiente nachgehen. Catherine Breillat rührt in »Romance« gezielt an das Tabu von aktiver weiblicher Sexualität.

Virginie Wagon geht es indes um einen subtilen Bruch mit dem vom männlichen Blick dominierten Kino. Virginie Wagon und Co-Autor Eric Zonca (»Der kleine Dieb«) erzählen auch über die Ehe und das soziale Umfeld aus der Perspektive der Frau. Ähnlich wie in Eric Zoncas Film »La vie revée des anges« (»Liebe das Leben«) ist auch in »Das Geheimnis« das Glück nicht ohne das Unglück vorstellbar. Der Pegel steigt und fällt, als seien die Menschen durch ein System kommunizierender Röhren miteinander verbunden. Der Film lebt von den Erschütterungen und veränderten Gefühlen. Entscheidend ist dabei die Wahrnehmung der Frau, die nicht nur ihren erotischen Sehnsüchten, sondern einer neuen, anderen Vorstellung von Liebe nachspürt.

Einmal sieht man Marie mit ihrem Mann François in einer minutenlangen Einstellung im Gespräch auf einer Sommerwiese beieinander liegen. Ihr kleiner Sohn spielt für sich allein unter einem Baum im Hintergrund. Trotz der spürbaren Vertrautheit und Nähe, die sie verbinden, wird Maries vages Gefühl, dass ihr trotzdem etwas fehlt, durch die minutenlange Dehnung der Szene bis zur frostigen Idylle deutlich.

Eine Szene, die an die gebrochenen Glücksmomente in »Le Bonheur« von Agnès Varda erinnert, die Mitte der sechziger Jahre die Glücksbegabung des Mannes beim Seitensprung untersucht hat. »Das Glück ist, wenn das Unglück schweigt. Das Glück setzt sich aus der Summe des verhinderten Unglücks zusammen«, heißt es da am Anfang. Ähnliches gilt für Marie, die in ihrem Liebeswahn einmal fast das Leben ihres Sohnes aufs Spiel setzt und im letzten Moment zur Besinnung kommt.

Es wird viel geredet und gestritten, z.B. als François (Michel Bompoil) entdeckt, dass er betrogen wird. Während er als Vertreter der Spezies »typischer Ehemann« zunächst Sicherheit und Zufriedenheit ausstrahlt, erweitert sich sein Spektrum vom rührenden kleinen Jungen über den lebenslustigen Vater bis zum Gewalttäter.

Bill hat wenig Text, weshalb den Afroamerikaner tatsächlich ein Hauch von Geheimnis umweht. Sein Reich ist die von einem Freund überlassene Villa, die er nie verlässt. Horror-Darsteller Tony Todd (»Die Rückkehr der Untoten«) verfügt über eine außergewöhnliche physische Präsenz und verleiht dem sprichwörtlichen Amerikaner in Paris nachdrücklich Gestalt, undurchsichtig, aber menschlich.

Insgesamt wird »Das Geheimnis« von seinen aufrechten Charakteren, von der Nähe und der Intimität der Gefühle getragen. Anne Coesens (»Mein Leben in Rosarot«) spielt unaufdringlich und mit wandelbarem Gesicht; mal egoistisch, mal euphorisch, mal ruhelos, zornig oder leidend und schwach.

Für die Beobachtung der Gefühle entwickelt Virginie Wagon ein beachtliches Gespür, allerdings nicht um die Unterschiede zwischen Mann und Frau herauszufiltern, vielmehr geht es ihr darum, mit den Augen Maries eine Selbsterkundung durchzuführen, bei der ein vages Gefühl der Auslöser ist. »Am Ende des Films kann sie mit diesen Gefühlen und ihren inneren Widersprüchen, die sie von anderen entfremdet haben, viel besser umgehen«, sagt Virginie Wagon über ihre Protagonistin. Die Frage, was aus Marie und François als Paar werden wird, lässt sie schließlich offen.

»Das Geheimnis« (F 2000), R: Virginie Wagon