Sinan Öztürk über den Arbeitsmarkt und den Gewerkschaftsnachwuchs

»Es trifft immer die Falschen«

Nur noch 3,5 Millionen Arbeitslose bis zum September des nächsten Jahres hatte sich Rot-Grün zum Ziel gesetzt. Doch schon im November machte der Bundeskanzler einen Rückzieher, und am Sonntag bestätigte es auch der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit: Bernhard Jagoda geht für 2002 von durchschnittlich 3,9 Millionen Arbeitslosen aus. Mit der Lage auf dem Arbeitsmarkt befasste sich am Wochenende in Berlin auch die Bundesjugendkonferenz des DGB. Sinan Öztürk, 26, ist Vorsitzender des Jugendverbandes der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Er arbeitet als Taucher für das Wasser- und Schiffahrtsamt Schweinfurt.

Den Gewerkschaften fehlt die Jugend, heißt es. Wie schaut es wirklich aus?

Es ist sicherlich so, dass wir im Jugendbereich nicht das an Mitgliedern haben, was möglich wäre. Dafür gibt es Gründe. In den Gewerkschaften gibt es für junge Menschen zu wenig Ansprechpartner. Vor allem gibt es kaum junge, hauptamtliche Gewerkschaftsfunktionäre, die sich mit unseren Themen befassen.

Das Image der Gewerkschaften gilt auch nicht gerade als jugendlich. Bieder, verstaubt und von gestern seien sie, hört man.

Da widerspreche ich. Es gibt genügend Studien, die besagen, dass junge Menschen die Notwendigkeit von Gewerkschaften bejahen. Es gibt häufig nur niemanden, der diese Menschen anspricht. Das Problem ist doch eher, dass viele Jugendliche während ihrer Ausbildungszeit Gewerkschaftsmitglieder sind, dann aber vom Ausbildungsbetrieb nicht übernommen werden. Weil es von Seiten der Gewerkschaften keine kontinuierliche Betreuungsarbeit gibt, treten danach eben viele wieder aus

Wie sind Sie zur Gewerkschaft gekommen?

Eher untypisch. Da meine Eltern beide in der Gewerkschaft sind, bin ich sozusagen der »geborene Gewerkschafter«. Aber lassen Sie mich noch etwas zum verstaubtem Image sagen. Das Gerede davon, dass die Menschen in der New Economy wegen ihrer Arbeitssituation von den Gewerkschaften nichts mehr wissen möchten, hat sich in den vergangenen Monaten doch immer mehr als Blase entpuppt. Die Menschen kommen zu uns und sehen, aha, da gibt es eine Organisation, die uns helfen kann. In der Krise setzen sich diese Menschen dann auch wieder mit Politik auseinander. Das ist für die Gewerkschaften eine riesengroße Chance.

Als Verdi-Mitglied gehören Sie der jüngsten Gewerkschaft an. Wie funktioniert das Zusammenwachsen von fünf Gewerkschaften zu einer sehr großen?

Nach über eineinhalb Jahren interner Auseinandersetzungen bin ich froh, dass wir uns jetzt wieder der Alltagsarbeit zuwenden. Ich war sehr skeptisch und bin jetzt - da spreche ich aber nur für den Jugendbereich - positiv überrascht. Hier wachsen die fünf Gewerkschaften tatsächlich zusammen. Dass es in Detailfragen unterschiedliche Meinungen gibt, gehört für mich zur politischen Kultur. Schließlich muss nicht immer alles stromlinienförmig in einer Einheitsmeinung münden.

Wie äußern sich denn die unterschiedlichen politischen Kulturen der alten Gewerkschaften?

Das ist oft ziemlich diffus und macht sich meist nur an Begrifflichkeiten fest. Für die einen ist die Gewerkschaft eine Kampforganisation, die anderen sagen, wir sind ein Interessenverband. Für mich ist es kein Gegensatz, wenn sich Gewerkschaften als Kampforganisationen definieren, ihren Mitgliedern aber trotzdem ein Höchstmaß an Service bieten. Es reicht doch nicht, wenn die Funktionäre einmal im Jahr daherkommen und sagen, wir brauchen euch, um eine Lohnerhöhung durchzusetzen. Wir müssen die Mitglieder das ganze Jahr über einbinden.

In den vergangenen Wochen sorgte Verdi mit Negativschlagzeilen für Aufmerksamkeit, es ging um Gehaltserhöhungen bis 60 Prozent für den Vorstand und starke Mitgliederverluste.

Zu den Vorstandsgehältern hatte die Jugend eine Meinung, und als Mitglied im Gewerkschaftsrat - das ist das höchste ehrenamtliche Gremium der Verdi - habe ich mich auch an der Debatte beteiligt. Bei der Abstimmung gab es dann eine knappe Mehrheit für die Erhöhung der Vorstandsgehälter. So ist es in der Demokratie, es gibt eine Mehrheitsentscheidung und dann ist Schluss. Es bringt doch nichts, wenn die Gegner der Erhöhung weiter Sand im Getriebe sein wollen.

Wie beurteilen Sie die Bilanz der rot-grünen Regierung ein knappes Jahr vor der nächsten Bundestagswahl?

Eher durchwachsen. Einige Kernforderungen der DGB-Jugend wurden nicht erfüllt, wie zum Beispiel die Umlagefinanzierung. Wir haben ja die Kampagne »Wer nicht ausbildet, muss zahlen« gemacht. Das heißt, dass Betriebe, die nicht ausbilden, in einen Topf einzahlen sollen, damit Jugendliche überbetrieblich ausgebildet werden können. Ein halbes Jahr vor der letzten Wahl war die SPD noch dafür, und nun will sie davon nichts mehr wissen. Das Thema halten wir am Kochen.

Aber auch ein neues Berufsbildungsgesetz, in dem beispielsweise die Berufsschulzeiten geregelt werden, ist noch nicht in Sicht. Außerdem gibt es in überbetrieblichen Ausbildungsstätten noch keine gesetzlich garantierte Jugendvertretung. Und nicht zuletzt halten wir es für einen Fehler, dass sich die Regierung von der paritätischen Rentenfinanzierung verabschiedet hat.

Glauben sie, dass man die SPD back to the roots führen, sie also durch außerparlamentarische Aktionen dazu bewegen kann, Politik für die abhängig Beschäftigten zu machen?

Schwer zu sagen. Hier auf dem Kongress hat der SPD-Generalsekretär Franz Müntefering gesagt: »Wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es auch dem Rest gut.« Ich befürchte eher, dass die SPD ihren wirtschaftsfreundlichen Kurs beibehält. Ob die Partei irgendwann sagt, jetzt bedienen wir die Arbeitnehmerschaft, darauf bin ich gespannt.

Was sagen sie zu den Grünen?

Wenn ich bedenke, dass die Partei für Jugendliche einmal eine große Anziehungskraft hatte, dann bin ich sehr enttäuscht. In der Opposition haben die Grünen aus meiner Sicht eine recht gute Politik gemacht. Jetzt, wo sie an der Regierung sind, haben sie sich total gedreht und ihre pazifistische Grundhaltung über Bord geworfen.

Gibt es etwas Positives?

Sicherlich, zum Beispiel, dass die volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wieder eingeführt wurde oder das Schlechtwettergeld auf dem Bau. Doch das wenige Positive wird derzeit überlagert durch den Krieg in Afghanistan und die Beteiligung der Bundeswehr am Kriegseinsatz.

Der Verdi-Gewerkschaftsrat diskutiert diese Woche über den Krieg. Was erwarten sie von dieser Debatte?

Die Verdi-Jugend spricht sich gegen den Krieg aus. Das heißt, wir sind auch gegen einen Bundeswehreinsatz. Krieg ist für uns der falsche Weg als Mittel von Konfliktbewältigung. Es trifft immer die Falschen, nämlich die Zivilbevölkerung. Der Landesverband Baden-Württemberg stellt jetzt im Gewerkschaftsrat ein Papier zur Abstimmung, in dem es sinngemäß heißt, dass dieser Krieg den Terror fördere und der Verteidigung des Status quo zwischen Arm und Reich auf der Welt diene. Das wird in aller Deutlichkeit verurteilt, und ich hoffe, dass wir für diese Haltung eine Mehrheit finden.

Beim Verdi-Vorsitzenden Frank Bsirske klingt das anders. Es darf keine Eskalation des Terrors geben, sagt er sinngemäß, aber wenn es Krieg gibt, dann muss die Bundeswehr dabei sein.

Als Vorsitzender darf er ruhig eine Meinung haben. Wenn der Gewerkschaftsrat jedoch anders abstimmen sollte, dann hat sich auch der Vorsitzende daran zu halten.

Und wenn sich ihre Gewerkschaft für den Krieg entscheidet?

Dann gehöre ich zu der Seite, die unterlegen ist, den Krieg aber halte ich dann trotzdem nicht für gut. Niemand wird mich daran hindern können, an Antikriegsveranstaltungen teilzunehmen.