Die Folgen der Bonner Konferenz für Afghanistan

Großer Rat ist teuer

Paschtunische Politiker sind uneinig über die Ergebnisse der Bonner Konferenz. Sie haben den afghanischen Staat fast immer beherrscht, aber seine Zentralisierung verhindert.

Er ist Risiken eingegangen«, erklärte Mehmood Khan Achakzai von der Pashtunkhwa Milli Awami Party, »er verdient eine Chance.« Wie viele andere paschtunische Politiker äußerte er sich zufrieden über die auf der Bonner Konferenz vereinbarte Interimsregierung, deren Premierminister der Paschtune Hamid Karzai werden soll.

Karzai ist Mitglied des aristokratischen Popalzai-Clans, der seine Herkunft auf Ahmad Schah Durrani, den ersten afghanischen König, zurückführt. Seit Oktober hatte er versucht, im südlichen Afghanistan paschtunische Unterstützer für den Kampf gegen die Taliban zu sammeln. Dabei wurden seine bewaffneten Begleiter mehrfach in Gefechte verwickelt.

Die Unterstützung für Karzai ist jedoch nicht einhellig. So beklagte sich Khalid Paschtun über die mangelnde paschtunische Repräsentanz in der Interimsregierung und erklärte: »Wir brauchen Leute mit der Fähigkeit, das Land zu regieren. Ich denke nicht, dass Karzai das tun kann.« Paschtun ist der Sprecher Gul Agha Sherzais, dessen Truppen bei Kandahar gegen die Taliban kämpften.

Außer den Warlords der Nordallianz entscheidet vor allem die paschtunische Bevölkerungsgruppe die Frage, ob die Interimsregierung sich durchsetzen kann. Der paschtunische Bevölkerungsanteil wird auf 40 Prozent geschätzt, die acht Millionen PaschtunInnen gelten als die größte existierende Stammesgesellschaft der Welt. Sie ist jedoch sozial, regional und politisch gespalten.

Es gibt mehrere Millionen NomadInnen, aber auch klein- und großbäuerliche Familien, PächterInnen, GroßgrundbesitzerInnen und wegen des Kriegsverlaufs auch immer mehr StadtbewohnerInnen und Flüchtlinge. Wie bei den anderen Bevölkerungsgruppen wurde die ethnische Zugehörigkeit erst im Verlauf der letzten Kriegsjahrzehnte politisiert (Jungle World, 49/01). Davor war die kollektive Identität sehr oft regional bestimmt und an den geografischen Lebensmittelpunkt gebunden.

Den PaschtunInnen vermittelte jedoch traditionell neben der gemeinsamen Sprache Paschto und der Berufung auf den mythischen gemeinsamen Ahnherrn Abdul Quais, einen Gefährten des Propheten Mohammed, vor allem das Paschtunwali ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Das in den ländlichen Regionen im Süden Afghanistans seit Jahrhunderten geltende Paschtunwali, das zugleich Weltbild, Normen- und Handlungskodex ist, stellt die PaschtunInnen höher als andere Bevölkerungsgruppen. Zugleich spaltet es die paschtunische Gesellschaft, da es die Ehre und ihre Wiederherstellung bei ehrschädigendem Verhalten stark betont, was oft zu einer unheilvollen Kette von Racheakten zwischen Individuen, aber auch ganzen Stämmen und Clans führt.

In Afghanistan sind nur zehn Prozent des Landes bebaubar, und Wasserquellen sind selten, was zu einer starken Konzentration von Familienzusammenhängen auf engem Raum führt. Auseinandersetzungen im familiären Nahbereich, die bis zum Totschlag führen, sind in manchen Regionen fast alltäglich. »Tarbur« bedeutet nicht zufällig zugleich »Cousin« und »Rivale«.

Das Paschtunwali sieht zum Teil brachiale Bestrafungen vor, auf den Diebstahl eines Gewehrs steht mancherorts die Todesstrafe. Es kennt aber auch sehr partizipatorische politische Organisationsformen und betont die Rolle der lokalen Entscheidungsfindung. Die Jirgas stellen eine Art Rätestruktur dar, die Konflikte schlichten und Betroffene an Entscheidungprozessen beteiligen soll. Frauen sind allerdings von der Teilnahme an Jirgas traditionell ausgeschlossen.

Beide Parteien müssen prinzipiell zu einer Einigung bereit sein, da die Jirga keine Zwangsinstrumente zur Durchsetzung ihrer Beschlüsse kennt. Die Palette der diskutierten Themen reicht von kommunaler Infrastruktur über individuelle Fehden bis hin zu Konflikten zwischen Stämmen. Wegen dieser Praktiken wurden die PaschtunInnen häufig als »Volk ohne Staat« bezeichnet.

Die lokalen Entscheidungsstrukturen bewirken aber auch eine starke Identifikation mit der lokalen herrschenden Klasse, da diese in der Jirga meist eine dominante Rolle innehat. So ist wohl auch zu erklären, dass es in den 250 Jahren afghanischer Geschichte nie einen Aufstand gegen die lokalen Unterdrücker gegeben hat, obwohl auch die ärmsten paschtunischen Bauern gut bewaffnet sind.

Für Zentralisierungsmaßnahmen und Kontrollversuche aus dem In- und Ausland sind die lokalen Strukturen ein Hindernis. Die PaschtunInnen zu entwaffnen oder zu besiegen und eine effektive Herrschaft über das ganze Land auszuüben, gelang der afghanischen Zentralmacht nie. Allerdings sind sie keine geschworenen Feinde jeder zentralen Regierung. Der afghanische Staat wurde 1747 just von den »autonomistischen« paschtunischen Stämmen gegründet.

Die Rolle des Staates sollte aber auf die Aufrechterhaltung einer relativen Ruhe und Ordnung beschränkt bleiben. Die Einmischung in Fragen der Erziehung und Schulbildung von Frauen und Mädchen wurde und wird abgelehnt. Staatlich organisierte Alphabetisierungskampagnen wie in den zwanziger und achtziger Jahren griffen zudem das Bildungsmonopol der Mullahs in ländlichen Gebieten an, was Aufstände gegen diese Maßnahmen weiter anheizte. Zudem erwarteten die Stämme als Gegenleistung für ihre Loyalität kontinuierliche Geldgeschenke und Privilegien.

Seit seiner Gründung stand der afghanische Staat unter paschtunischer Hegemonie, auch die von der Sowjetunion gestützte Herrschaft der Volksdemokratischen Partei Afghanistans (VDPA) war keine Ausnahme. Nur die Herrschaft der heute in der Nordallianz zusammengeschlossenen Gruppen brach von 1992 bis 1996 mit dieser Tradition. Sie rekrutierten sich überwiegend aus schiitischen Hazara, UsbekInnen und TadschikInnen. Die Eroberung des größten Teils Afghanistans durch die Taliban erneuerte die paschtunische Dominanz.

Neben den in Koranschulen erzogenen Kämpfern schlossen sich den Taliban auch Überläufer aus der VDPA, der afghanischen Armee und den eroberten Provinzen an. Das Taliban-Regime scheint die Strategie vorheriger Herrscher kopiert zu haben, lokalen Autoritäten viel Spielraum zu geben. Diese lokalen Strukturen haben sich vielerorts offenbar relativ unbeschädigt erhalten. Ob wegen der militärisch aussichtslosen Lage oder angebotener Bestechungsgelder - mehrere Tausend paschtunische Kämpfer sollen sich bereits gegen die Taliban gewandt haben.

Insbesondere diese Kreise scheinen mit den Ergebnissen der Bonner Konferenz nicht zufrieden zu sein. Karzais Führungsposition soll symbolisieren, dass die PaschtunInnen nicht von der Regierungsmacht ausgeschlossen werden, doch die wichtigsten Ministerposten werden von Mitgliedern der Nordallianz besetzt.

Die Interimsregierung soll von einer weiteren Übergangsregierung abgelöst werden, die von der Loya Jirga ernannt wird. Dieser »große Rat«, das Äquivalent zu den regionalen Jirgas auf nationaler Ebene mit Beteiligung aller wichtigen Repäsentanten des Landes, muss nach den Bonner Vereinbarungen innerhalb von sechs Monaten einberufen werden. Er hatte bisher meist nur eine nachträgliche Legitimationsfunktion für bereits getroffene Entscheidungen. Und über die dürfte in den kommenden Monaten noch heftig gestritten werden.