Diskussion über die Pisa-Studie

Die Schule liegt schief

Man kann an der Pisa-Studie viel kritisieren. Aussagekräftig ist sie dennoch.

Obwohl die Ergebnisse der am 4. Dezember in Berlin veröffentlichten Pisa-Studie eigentlich niemanden wirklich überraschten, war der Aufschrei in der Politik- und Medienlandschaft gewaltig. »Die Schulen verlottern«, meinte der Berliner Schulsenator Klaus Böger (SPD) in einem Interview mit der Berliner Zeitung. Gleichzeitig begann die Suche nach den Schuldigen.

Wer ist es denn nun gewesen? Die LehrerInnen? Die PolitikerInnen? Die Medien? Oder gar die AusländerInnen? In dem Gerangel gingen leider die Stimmen der 12,6 Millionen Menschen unter, die es vielleicht am besten wissen müssten: die Schülerinnen und Schüler.

Für einen sinnvollen Umgang mit den Ergebnissen der Pisa-Studie ist es notwendig, sich erst einmal genau anzusehen, was eigentlich wegen welcher Befunde über wen ausgesagt wird. Man wird schnell feststellen, dass die Aussagekraft der Studie begrenzt ist: Nur abfragbares Wissen mit richtigen oder falschen Lösungen lässt sich prüfen, zum Beispiel naturwissenschaftliche und mathematische Kenntnisse oder die Lesefähigkeit. Darüber hinausgehende Kompetenzen können nicht durch Multiple-Choice-Tests oder schriftliche Fragen festgestellt werden. Dennoch droht der Bildungsbegriff aber gerade in Debatten um Schulleistungsvergleiche auf solche Indikatoren reduziert zu werden, um damit bestimmte bildungspolitische Forderungen untermauern zu können.

Ein weiterer kritischer Punkt der Pisa-Studie ist der Ansatz der Erhebung. Betrachtet wurde nicht der »Input«, also die der Schule zur Verfügung stehenden Ressourcen, die Anzahl der SchülerInnen pro LehrerIn oder das soziale Milieu einer Schule. Entscheidend war ausschließlich der »Output«, also die erbrachte Leistung der Schülerinnen und Schüler.

Wenn solche Vergleichsstudien eine Sinn haben sollen - zum Beispiel, um zu überprüfen, ob gesteckte Ziele erreicht wurden -, muss man Methoden finden, schulische Bildung im weiteren Sinne zu »messen«, also auch gesellschaftliche und politische Meinungsbildungsprozesse. Im Augenblick ist eine gegenläufige Tendenz zu beobachten: Die Inhalte der Schulleistungsvergleiche beeinflussen und normieren die Lehrpläne und damit die Inhalte schulischer Bildung.

Weiterhin sollten Rankings bei Schulleistungsvergleichen ein Tabu sein. Nach der internationalen Pisa-Studie soll schon im Frühjahr die Auswertung der nationalen Pisa-Vergleichsstudie fertiggestellt sein. Es steht zu befürchten, dass dann eine Hitliste der Bundesländer präsentiert wird. Rankings sind für die Schulen kontraproduktiv: Die vermeintlich besten Bundesländer sehen ihre Politik bestätigt und haben wenig Anlass zu innovativen oder kostenintensiven Veränderungen. Demgegenüber werden die Bundesländer mit einem vermeintlich schlechten Schulwesen unter erschwerten Bedingungen an dessen Verbesserung arbeiten müssen. SchülerInnen, die es sich leisten können, nutzen verstärkt die Angebote privater Bildungseinrichtungen oder wandern in angrenzende Länder ab. Die unter Druck geratenen PolitikerInnen werden alles daran setzen, beim nächsten Schulvergleich besser abzuschneiden und die Schulen an den LehrerInnen, den SchülerInnen und den Eltern vorbei zu Paukschulen zurückentwickeln.

Trotz aller prinzipieller Kritik lohnt sich dennoch die Analyse der Pisa-Studie, wie sie nun einmal vorliegt. Entscheidend ist dabei weniger das miese Abschneiden der deutschen SchülerInnen im Leistungstest, auf den sich vor allem das Interesse der PolitikerInnen richtet, sondern die soziale Erhebung.

Die Leistungen von Haupt-, Real- und GymnasialschülerInnen überlappen sich in hohem Maße. Die These, SchülerInnen könnten in homogenen Gruppen besser lernen, hat sich ganz offensichtlich als falsch erwiesen. Die Reaktion der KultusministerInnen auf diese Erkenntnis ist immerhin das Versprechen, die Durchlässigkeit innerhalb des dreigliedrigen Schulsystems zu verbessern. Schließlich sind Deutschland und Österreich die letzten beiden Staaten Europas, in denen dieses Schulsystem, ein Relikt aus dem Kaiserreich, noch Bestand hat. Und beide Länder schnitten schlecht ab.

Da es weder sinnvoll noch möglich ist, homogene Lerngruppen zu schaffen, sollte es das höchste Ziel der BildungspolitikerInnen sein, Chancengleichheit zu schaffen. Immerhin werden mit der Entscheidung für eine der drei Schularten Weichen für den möglichen beruflichen Werdegang eines jungen Menschen gestellt. Deshalb muss die frühe Verteilung auf die drei Schularten - in den meisten Bundesländern nach der vierten Klasse - in den Mittelpunkt der Kritik am Schulwesen rücken.

Eine weitere erschreckende Erkenntnis der Pisa-Studie übersehen die KultusministerInnen geflissentlich: den unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Schulbildung und dem sozialen Hintergrund der SchülerInnen, der in Deutschland deutlicher ist als in jedem anderen der untersuchten Länder. Jedem sozialdemokratischen Bildungspolitiker müsste das die Tränen in die Augen treiben. Doch der Boom privater Bildungseinrichtungen, vom elitären Internat bis zur Nachhilfestube, geht weiter. Bildung entwickelt sich mehr und mehr vom Grundrecht zum Privileg derer, die sie sich leisten können. Deshalb muss das Schulsystem grundsätzlich in Frage gestellt werden.

Auch die Organisation des Lernens muss kritisch beleuchtet werden. Bisher verläuft es nicht prozess-, sondern zielorientiert. SchülerInnen lernen vor allem, um bei Prüfungen gut abzuschneiden. Entscheidend ist, was auf dem Zeugnis steht, nicht was sie »fürs Leben« lernen. Deshalb verbinden sie damit vor allem Zwang und Druck statt Spaß. Nicht selten projizieren Jugendliche deshalb alle ihre Frustrationen auf die Institution Schule und entwickeln eine ausschließlich abwehrende oder verweigernde Haltung.

Um diesem Prozess entgegenzuwirken, ist es mit schönen Phrasen vom »Lebensraum Schule« und von der »Schulfamilie« oder mit einer weiteren Theater-AG lange nicht getan. Lernen macht nur dann Spaß, wenn sich die SchülerInnen dabei selbst entfalten können. Dieses Ziel kann nicht erreicht werden, ohne dass die SchülerInnen die Lerninhalte in großem Maße mitbestimmen können. Nur wenn Lernen als emanzipatorischer und positiver Prozess erfahren wird, kann sich der Wissensdurst eines Menschen entfalten.

Bildung muss als Selbstzweck erkannt werden, und die ökonomische Verwertbarkeit der Lerninhalte hat in den Hintergrund zu treten. Das müssen PolitikerInnen wie LehrerInnen lernen.

Phil Rusche ist Mitglied im Vorstand der BundesschülerInnenvertretung.