Soldaten werden der Folter angeklagt

Schläge sind Routine

Vor einem türkischen Militärgericht müssen sich erstmals Angehörige der Armee wegen Folter verantworten. Der Kläger ist ein türkischer Nationalist.

Murat Agirtici ist nicht gerade ein Sympathieträger. Er ist ein erklärter »Ülkücü«, ein ultrarechter Nationalist, und er bekennt, dass er sich erst gefreut habe, als der ehemalige Vorsitzende des türkischen Menschenrechtsvereins, Akin Birdal, fast einem Mordanschlag erlag. Aber jetzt habe er verstanden, dass für jeden der Tag kommen kann, an dem er auf sein Menschenrecht pocht.

Nun vertritt ihn die Vorsitzende des linken Menschenrechtsvereins, die Anwältin Eren Keskin, in einem wichtigen Präzedenzverfahren. Vor dem Militärgericht Edirne klagt Murat Agirtici gegen den Direktor des dortigen Militärgefängnisses und drei Aufseher, ihn und andere Gefangene systematisch misshandelt und gefoltert zu haben.

Die Presse wird aus dem Raum geschubst, nachdem sie zwei Minuten lang fotografieren durfte. Auch andere, prominente Prozessbeobachter werden des Saales verwiesen. Sanar Yurdatapan, ein Komponist und Funktionär einer Aktivistengruppe gegen Zensur, berichtet von seinen Erfahrungen in der Armee, wo er mehrfach geschlagen wurde. »Wenn die Hälfte der türkischen Bevölkerung männlich ist, dann können wir davon ausgehen, dass jeder zweite Türke in seiner Militärzeit in irgendeiner Form geschlagen oder misshandelt wurde, denn das gilt dort als normale Form der Disziplinierung«, erzählt er uns.

Nach dem Ende der Anhörung treten Eren Keskin und Murat Agirtici aus dem Saal. Sowohl die bekannte Menschenrechtsaktivistin als auch Sanar Yurdatapan müssen sich vor dem gleichen Gericht in unterschiedlichen Verfahren wegen »Verunglimpfung des Militärs« verantworten. Der »Ülkücü« Murat Agirtici passt nicht so recht in die Gruppe, und er wandte sich auch nicht sofort an den Menschenrechtsverein. Doch die Nationalisten und Islamisten, die er zunächst dazu bewegen wollte, für Aufmerksamkeit in den Medien zu sorgen, hielten nicht viel davon, das Militär anzuklagen.

Wir finden ein ruhiges Plätzchen in der Nähe des Busbahnhofes, der stämmige 30jährige Mann möchte die militärische Umgebung schnellstens verlassen, und als wir seine Geschichte hören, verstehen wir sehr gut, warum. 1993 hatte er sich als Freiwilliger für den Bosnien-Einsatz zum Militärdienst gemeldet. Trotz seiner nationalistischen Haltung desertierte er nach ein paar Monaten. Man hatte es abgelehnt, ihn als Wehrdienstleistenden nach Bosnien zu schicken.

Fünf Jahre lang lebte er unbehelligt, doch 1998 nahmen ihn die Jandarma bei einer Straßenkontrolle fest. Er musste seine erste Haftstrafe im Militärgefängnis von Edirne antreten. Sobald er den Wärtern gegenüberstand, habe er sich splitternackt ausziehen müssen. Seine Stimme zittert vor Wut bei der Erinnerung an diese Erniedrigung: »Ist das nicht allein schon eine entwürdigende Art von Folter an den Gefühlen von Scham und Würde, die man hat?«

Es ist die normale Art, in der Gefangene in allen türkischen Gefängnissen behandelt werden. Murat Agirtici erzählt uns, dass man zunächst sogar glimpflich mit ihm umgegangen sei, weil er sich sofort als »Ülkücü« zu erkennen gab. Die obligatorische »Willkommensparty«, schwere Prügel in der Kantine, blieb ihm erspart.

Doch die Atmosphäre in dem Militärgefängnis ist von Schikanen bestimmt. 45 Personen müssen in einer kleinen Zelle in U-Form den ganzen Tag lang auf dem Boden sitzen. Zweimal in der Woche gibt es einen kurzen Freigang, wenn alle brav waren. Das Sprechen ist verboten, Zigaretten oder andere Dinge zu teilen gilt als Disziplinlosigkeit. Bei einem Verstoß gegen diese Regeln droht die Prügelstrafe in der Kantine.

Dabei geht es den Wärtern, meist einfachen Soldaten oder Unteroffizieren, vor allem um die Erniedrigung des Opfers. Schwere Verstöße werden mit Einzelhaft bestraft, die eigentlich nur durch ein Gerichtsurteil verhängt werden darf. Diese Gesetze interessieren aber in den Gefängnissen niemanden. Weiterhin gelten Stockschläge in das Gesicht, schwere Prügel, Essensentzug und Unterkühlung als normale Disziplinierungsmaßnahmen.

Nach seiner Entlassung muss Murat zurück zu seiner Einheit, er läuft aber wieder weg. Und landet deswegen noch einmal für ein paar Monate in Edirne. Beim zweiten Aufenthalt erlebte er auch die »Willkommensparty«, denn der Ülkücü-Bonus gilt nicht mehr, wenn man zum zweiten Mal im Militärknast auftaucht. Sein rechtes Trommelfell platzt nach einer besonders heftigen Ohrfeige. Behandelt werden solche Verletzungen im Militärgefängnis grundsätzlich nicht, denn dann hätte der Misshandelte ja einen Beweis für das Geschehene.

Nach 42 Tagen wird Murat Agirtici entlassen. Er geht zum Militärstaatsanwalt und zeigt die Gefängnisleitung und die Wärter an, doch nichts passiert. Als er wegen seiner vorherigen Desertion noch einmal für 75 Tage ins Militärgefängnis muss, rächt man sich für die Anzeigen. Diesmal brechen ihm die Wärter die Nase und schlagen ihm einen Zahn aus, wieder wird ärztliche Hilfe verweigert.

Nun schreibt er an alle Instanzen, an das Verteidigungsministerium, den Generalstab und den Staatspräsidenten über die Behandlung im Militärgefängnis von Edirne. Er will dem Gefängnisdirektor, einem Major, zeigen, dass es noch Gesetze gibt. Ein Militärrichter hört Murat Agirtici schließlich zu. Kurz darauf werden die drei beschuldigten Wärter festgenommen, bald aber wieder auf freien Fuß gesetzt. Sie sind immer noch im Dienst.

Aber das Verfahren wurde eingeleitet. Nachdem die erste Anklageschrift viele Tatsachen verschwieg, suchte sich der Kläger Unterstützung bei den Anwälten des Menschenrechtsvereins. Man begann, nach Beweisen für die Delikte zu suchen. Die erste Verhandlung im August dauerte zehn Stunden, es wurden insgesamt 50 Mithäftlinge Agirticis befragt. Sie alle bestätigten das Erzählte und beschrieben eigene Erfahrungen ähnlicher Art.

Die Verurteilung von Angehörigen der Streitkräfte wegen solcher Delikte wäre genauso ein Präzedenzfall wie die Klage selbst. Murat Agirtici glaubt nicht recht an einen Schuldspruch. Aber er ist entschlossen, durch alle Instanzen zu gehen, wenn nötig auch vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Ist das nicht der Gerichtshof, an den sich sonst nur die Kurden, die Linken und andere Vaterlandsverräter wenden, wagen wir zu spotten. Doch Murat Agirtici sieht da keinen Widerspruch: »Ich bin zwar ein Ülkücü, aber ein gerechter Ülkücü.«