Gespräch über »Mulholland Drive« von David Lynch

Wo isst Gott?

Der neue Lynch und was er bedeuten soll. Eine E-Mail-Konferenz

Benjamin Schiffner: Ich sag's gleich vorweg: Man kann diesen Film nicht verstehen, und nur ich weiß, wie, aber das verrate ich nicht.

Kathrin Passig: Fangen wir mit der blauen Box an. Dass man einen dreieckigen Schlüssel nicht in einem dreieckigen Loch drehen kann, wissen wir seit dem Formen-Steckbaukasten im Kindergarten. Es handelt sich also um eine nur gedachte Schachtel, »a bluebox of the mind«. Der blaue Schlüssel ist ein Abkömmling des halbwegs realen Schlüssels, den der Auftragskiller auf dem Tisch hinterlässt, und die blaue Schachtel soll lediglich die Einsamkeit des Schlüsselchens via was zum Reinstecken lindern. Aber hat jemand verstanden, woher das viele Geld kommt?

Jochen Wendeberg: Woher das Geld stammt, kann ich auch nicht erklären, doch fände ich es spannend, »bodenständig« über die beiden Frauen und ihre Beziehung zu mutmaßen ...

Schiffner: Also, ich finde es sehr gut, dass und wie die beiden Frauen sich küssen, sehr gut, sehr, sehr, sehr. Ist das bodenständig genug? Das Geld ist übrigens nur ein gebräuchlicher Topos oder sowas, aber die Schlüssel-Erklärung ist mir doch allzu platt. Wieso ist der eine blaue Schlüssel, der nicht mal wie ein Schlüssel aussieht, ein »Abkömmling« des anderen Schlüssels? Was genau passiert in dem Moment, wo Laura/Rita das blaue Dings in das blaue Kästchen steckt?

Passig: Das Geld ist seinerseits ein Abkömmling der in der gleichen Handtasche überreichten Zahlung an den Auftragskiller in der zweiten Hälfte des Films. Und was nicht wie ein Schlüssel aussieht, aber dazu gemacht ist, ins Schlüsselloch gesteckt und rumgedreht zu werden, ist trotzdem ein Schlüssel. Man muss da flexibel sein, sonst schläft man in modernen Hotels auf dem Flur.

Wendeberg: Zu der viel berätselten Zweiteilung des Films möchte ich auf die Synopsis von D. Lynch hinweisen: »Part 1: She found herself inside the perfect mystery, Part 2: A sad illusion, Part 3: Love.« Er sieht da wohl 3 Teile!?

Schiffner: Ein Irrer. Nein, der Film ist nur zu verstehen, indem man einsieht, dass er nicht zu verstehen ist. Anders ausgedrückt: Trainierten Lesern der vorliegenden Publikation würde sich der »Sinn« des Films sofort erhellen, brächte man Worte wie Struktur, Kontext, verorten, Diskurs, Pop, Strategie, schnafte usw. usw. in die richtige Reihenfolge. Und für die Bild-Zeitung heißt das eben: »Mysteriöses Großstadtmärchen mit Gänsehaut, Nervenkitzel und knisternder Erotik.«

Nur ist hier die Reihenfolge der einzelnen Begriffe bereits vollkommen, nämlich vollkommen egal. Der Film handelt im Übrigen von einem Mann, der mit einem anderen Mann einen Diner aufsucht, weil, so der Mann, genau dieser Diner eine wesentliche Rolle spielt in zwei Träumen, von denen er in letzter Zeit wiederholt heimgesucht wird. Beide Träume würden damit beginnen, dass er, der andere Mann, am Tresen eben dieses Diner steht. So. Der andere Mann hört sich das an, meint dann, er würde jetzt mal zahlen und steht auf. Und als unser Mann wieder aufblickt, steht der Mann, der am Anfang seiner Träume immer am Tresen dieses Diner steht - am Tresen dieses Diner. Ha!

Alles, was dieser Szene folgt, sind den Gesetzen der Logik zufolge die beiden Träume des Mannes, die, den Gesetzen der Traumlogik zufolge, sich reichlich unlogisch und konfus entwickeln. Diese kurze Sequenz zu Beginn ist die einzige »reale« Ebene im ganzen Film, und das, was beispielsweise die beiden Frauen füreinander empfinden, sind demnach auch keine »erstaunlichen Gefühle«, sondern eher ein feuchter Traum.

Wendeberg: Ich zitiere David Lynch: »Ich kann einfach nicht verstehen, weshalb die Leute um jeden Preis einen Sinn in der Kunst finden wollen, während sie sich längst damit abgefunden haben, dass es ihn im Leben nicht gibt.« Warum er aber deswegen »früher« Hühner und Fische zerlegt und als Kunst und nicht als Essen verkauft hat, erklärt das noch nicht. Ja, die Diner-Szene ist nicht ohne, darauf folgt ja die mit dem Schwarzen Mann, der bei Lynch wie ein obdachloser Neandertaler aussieht.

Passig: Man hat aber sehr viel weniger wegzuerklären, wenn man davon ausgeht, dass Betty/Diane, also die Blondine, mit dieser Szene eine Erklärung für ihr unerwartetes Unglück konstruiert. Hier wird schließlich die Figur eingeführt »who's behind it«, nicht nur hinter dem Diner nämlich, sondern auch hinter den hässlichen Entwicklungen in Dianes Leben. »Das ist der, der an allem schuld ist«, gibt der Mann mit dem Traum zu Protokoll. Weil sich Diane nicht damit zufrieden geben will, dass das alles ohne Sinn und Zweck passiert.

Schiffner: Eben: Der Film handelt eigentlich von Bedeutungslosigkeit. Oder davon, dass wir in einer »bedeutungslosen« Welt leben, einer nämlich, die nicht mehr subjektiv erfahrbar ist, weil jede mögliche Erfahrung nur noch Zitat aller bereits gemachten Erfahrungen sein kann und einem postwendend zusammen mit der ihr gemäßen emotionalen Reaktion ins Haus geliefert wird.

Passig: So ein Unsinn. Die Diner-Szene hat sich Diane unbewusst mühselig hingebastelt, sie dient zur Beruhigung von Diane, da sie eine greifbare Instanz herstellt, die an dem ganzen Debakel schuld ist. Und eben weil die Szene nur zu diesem Zweck konstruiert ist - ein Kasperletheater mit Teufel speziell für Diane -, tauchen die beiden Protagonisten auch vorher und nachher nicht mehr auf. Lediglich das Diner stammt aus der zweiten, »realeren« Hälfte des Films, und die Kamera starrt für einen kurzen Moment aufdringlich das Münztelefon an, von dem Betty und Rita später im Film die Polizei anrufen werden, um sich nach dem Unfall auf dem Mulholland Drive zu erkundigen.

Schiffner: Soll das heißen, Diane sagt sich - und zwar unbewusst! - , wenn oder weil alles zu arg wird, quasi im dunklen Keller pfeifend: Na ja, zum Glück sind mein wirkliches und mein phantasiertes Leben ja nur die irren Träume irgendeines Mannes, den ich gar nicht ... oh ... ist er am Ende etwa - Gott?

Passig: Das soll es nicht heißen! So ein Unfug, so sieht doch niemals Gott aus!

Schiffner: Unbewusst glaubst du aber schon, dass er's ist.

Passig: Totaler Quark. Es sind das Kasperle (Patient) und der Wachtmeister (Analytiker), die dem Teufel (Teufel) begegnen. Gott isst nicht im Diner!

»Mulholland Drive« (USA/F, 2001), R.: David Lynch. Bereits angelaufen.