Misstrauen gegen die Armee

Krach in den Kasernen

Viele Nigerianer hielten die Detonationen in Lagos für den Beginn eines Putsches. Denn auch zwei Jahre nach dem Ende der Militärherrschaft ist die politische Lage instabil.
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Gerüchte über einen erneuten Militärputsch verbreiteten sich schnell, als am Sonntag vor einer Woche ein Waffen- und Munitionslager der Armee in die Luft flog. Die explosive Kaserne in der nigerianischen Metropole Lagos war schon in den sechziger Jahren der Ausgangpunkt von Machtübernahmen des Militärs gewesen. »Ich muss mich im Namen des Militärs entschuldigen für das, was in der Ikeja-Kaserne passiert. Es gibt keine politischen Gründe. Es ist ein Unfall«, erklärte der Kommandant der Kaserne zwei Stunden nach der Explosion. An der Seite des Gouverneurs von Lagos, Ahmed Tinubu, trat er in den Hauptnachrichten des staatlichen Fernsehens auf. Trotzdem wurden in der Hauptstadt Abuja die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt, und der Staatspräsident Olusegun Obasanjo wurde in Sicherheit gebracht, während in Lagos die Menschen herumfliegenden Raketen und Artilleriegeschossen zu entkommen versuchten.

Mindestens 1 000 Menschen kamen bei dem mutmaßlich durch ein Feuer ausgelösten Unfall ums Leben. Auch Tage nach der »nationalen Tragödie« waren noch Hunderte vermisst. Gouverneur Tinubu warf der Armee Nachlässigkeit vor und forderte: »Wir müssen das Ansehen der Streitkräfte erhöhen.« Obasanjo kündigte daraufhin am vergangenen Donnerstag an, nun in allen Kasernen die sachgemäße Lagerung der Munition überprüfen zu lassen.

Doch die Nigerianer fürchten nicht nur weitere Katastrophen in anderen Kasernen, sondern auch mögliche politische Ambitionen der weiterhin einflussreichen Militärführung. Der Vorfall traf das Land in einer bereits prekären Situation. Seitdem Obasanjo 1999 zum Präsidenten gewählt wurde, sind schätzungsweise 10 000 Menschen bei Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten Milizen oder Banden umgekommen. In einigen muslimisch dominierten Bundesstaaten ist entgegen der Verfassung eine fundamentalistische Rechtssprechung gemäß der Sharia eingeführt worden (Jungle World, 44/01).

Einen neuen Höhepunkt erreichte die politische Krise, als Ende Dezember der angesehene Justizminister und Generalstaatsanwalt, James Ajibola Ige, ermordet wurde. Er galt als eine der wenigen integren Figuren in Nigerias politischer Landschaft und als enger Vertrauter von Präsident Obasanjo. Nach seiner Ermordung wurden alle möglichen Theorien aufgestellt. Wollten Teile des Militärs Obasanjos Regierung destabilisieren? Oder wurde er ermordet, weil er als Gegner der Sharia galt? Bei der Beisetzung sagte der Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka vor dem versammelten politischen Establishment Nigerias, dass die Mörder mitten unter den Trauergästen seien. »Mächtige Personen«, bekräftigte Soyinka kürzlich, seien verantwortlich für Iges Tod.

Mitte Januar wurde schließlich ein Verdächtiger festgenommen, der angab, von einem lokalen Politiker mit dem Mord beauftragt worden zu sein. Nach dieser Version wäre der Justizminister einem lokalen Machtkampf in seinem Bundessaat Osun zum Opfer gefallen. Doch Soyinka, der vor allem im Südwesten des Landes als moralische Instanz gilt, bezweifelt diese Erklärung.

Wer auch immer den Justizminister umgebracht hat, der Mord zeigte, wie sehr die Gewalt inzwischen die nigerianische Politik bestimmt. Der Übergang zur präsidialen Demokratie hat diese Tendenz nach den bleiernen Jahren der Militärdiktatur verstärkt. Die konkurrierenden Fraktionen des Militärestablishments hatten sich vor den Wahlen 1999 auf den ehemaligen General Olusegun Obasanjo als Kandidaten der People's Democratic Party (PDP) geeinigt. Obasanjo gilt als Demokrat, seitdem er 1979 als Militärherrscher die Macht an eine gewählte Regierung übergeben hat. Inzwischen ein Zivilist, restrukturierte er nach seinem Wahlsieg das Militär, indem er Angehörige von Minderheiten in Offiziersränge brachte. So wollte er einen erneuten Putsch verhindern.

Doch innerhalb der PDP blieb er ohne Basis, sodass die meisten wichtigen Gesetzesvorhaben in den beiden Häusern des Kongresses scheiterten. Nun versuchen die Politiker, sich für die Neuwahlen Anfang 2003 in Position zu bringen. Obasanjo hat noch nicht erklärt, ob er erneut kandidieren wird. Als aussichtsreicher Konkurrent gilt der ehemalige Militärdiktator und Multimillionär Ibrahim Babangida, der Obasanjo noch 1999 unterstützte.

Dem früheren Diktator werden verschiedene Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen, doch konnte er sich der Strafverfolgung bislang entziehen. Er weigerte sich, vor der Menschenrechtskommission zu erscheinen, welche die politischen Verbrechen der letzten 30 Jahre aufklären soll. »Die Geschichte, nicht die Kommission, wird das Urteil sprechen«, kommentierte deren Vorsitzender Chukwudifu Oputa resigniert. Eine Kandidatur Babangidas, der ein Vertreter des alten muslimischen Militärestablishments ist, brächte die verschiedenen regionalen und religiösen Gruppen des Landes noch stärker gegeneinander auf. Die Oppositionsparteien sind unterdessen zerfallen, und im Kongress wird darüber gestritten, ob neue politische Formationen zu den Wahlen zugelassen werden sollen.

Abseits der politischen Ränkespiele kämpft die Bevölkerung um ihre wirtschaftliche Existenz. Nach Zahlen der Weltbank leben 66 Prozent der Nigerianer von weniger als einem Dollar pro Tag. Die globale Rezession und der niedrige Rohölpreis wirken sich auch auf Nigeria aus, den sechstgrößten Ölexporteur der Welt. Als die staatliche Preisfindungskommission PPRC im Januar eine Benzinpreiserhöhung um 18 Prozent ankündigte, rief der Gewerkschaftsverband NLC zum Generalstreik auf.

In einem ähnlichen Konflikt vor knapp zwei Jahren konnten sich die Gewerkschaften noch durchsetzen. Doch diesmal blieb die Regierung Obasanjo hart. Er sei schließlich »Ressourcenmanager« und nicht »Kontrolleur«, ließ der Präsident verlauten. Die Regierung scheut sich, Benzin weiterhin zu subventionieren. Der Streik wurde verboten, da die gesetzliche Ankündigungsfrist nicht eingehalten worden war. Nachdem die Polizei mit Tränengas auf Streikende geschossen hatte und die Gewerkschaftsführer verhaftet worden waren, wurde der Ausstand schließlich abgebrochen.

Tatsächlich wird die Regierung bald die Kontrolle über die Benzindistribution verlieren. Denn wie vom Internationalen Währungsfonds (IWF) gefordert, wird inzwischen die Liberalisierung des Inlandsmarktes forciert. Misswirtschaft habe immer wieder zu Warenmangel geführt, begründet der IWF seine Haltung. In- und ausländische Firmen haben inzwischen vorläufige Lizenzen zur Errichtung neuer Raffinerien erworben. Zweifellos wird der bislang relativ niedrige Benzinpreis deshalb steigen, und damit auch die Wahrscheinlichkeit weiterer Proteste.

Auch unter den Soldaten regt sich Unmut. Bei einem Besuch des PDP-Vorsitzenden Audu Ogbe an der Unglücksstelle forderten obdachlos gewordene Soldaten, die versprochene Hilfe dürfe keinesfalls an die Militärführung ausgezahlt werden, da dann nichts bei ihnen ankommen würde. Als der Vizepräsident Atiku Abubakar die Ikeja-Kaserne inspizieren wollte, wurde er mit Wasserflaschen beworfen. Abubakar, der als möglicher Präsidentschaftskandidat gilt, sollte sich diese Warnung merken. Auch der erste nigerianische Militärputsch ging 1966 von einfachen Soldaten aus.