Verdis neue Zeitung ðPublikÐ

Schaufenster gucken

Verdis neue Mitgliederzeitung Publik will mit Gewerkschaftsthemen nichts zu tun haben.

Das freut die Mitglieder der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft Verdi: »Das Geld liegt auf der Straße«, wird in der neuen Mitgliederzeitung Verdi-Publik verkündet. Und wie man sein Geld wieder loswerden kann, weiß die Marketingabteilung des Blatts, z.B. mit einer Anzeigene. »Unter der Voraussetzung, dass die Verdi-Publik-Leser sich ebenso verhalten wie die Gesamtbevölkerung«, ist in der Image-Broschüre für die Anzeigenkunden zu lesen, »lassen sich auf Basis der Allensbacher Werbeanalyse (AWA) folgende Zielgruppen- und Produktpotenziale errechnen: 703 000 haben in den letzten 14 Tagen Vitamintabletten geschluckt, 135 000 Herz- und Kreislaufmittel, 144 000 Mittel zur Verdauungsregulierung.« Zudem verfügen die Verdi-Mitglieder über ein »überdurchschnittliches Bruttoeinkommen«, nämlich 83,4 Prozent über mehr als 1 500 Euro, 39 Prozent über mehr als 2 000 Euro und 13,6 Prozent über mehr als 2 500 Euro.

Dass sie mit Anzeigen irgendwelche umstürzlerischen Absichten finanzieren, müssen die Kunden nicht befürchten. »Verdi-Publik ist kein gewerkschaftliches Kampfblatt«, wird ihnen versichert, »es ist nicht dem Klassenkampf verpflichtet«, sondern versteht sich als ein »publizistisches Schaufenster für (Noch)-Nichtmitglieder« und verspricht: »Eine hohe journalistische Qualität bei Text und Gestaltung ist Anspruch und Standard.« Das liest sich so: »Seit es Frau und Mann gibt, zeugen sie Kinder; sonst gäbe es den Menschen nämlich gar nicht mehr.« Damit wird ein Beitrag über Reproduktionsmedizin angekündigt.

Der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske ließ 400 Tonnen Papier bedrucken und verkündete das Ende der publizistischen Bescheidenheit der Gewerkschaften. Mit dem Blatt soll »die Medienlandschaft bereichert« und ein Produkt etabliert werden, »das Diskussionen auslöst«. Immerhin: Mit einer Auflage von 2,8 Millionen Exemplaren ist das Blatt nach der ADAC-Motorwelt die zweitgrößte Verbandszeitung hier zu Lande. Zehn Mal im Jahr soll sie erscheinen.

Die Zeitung mit ihren 24 Seiten im Berliner Format präsentiert ein wildes Durcheinander von Kästen, Balken und viel Farbe. Diskussionen über die Zusammensetzung der Redaktion, nicht über die Inhalte des Magazins, begleiteten die Startphase. Im Verdi-Hauptquartier am Potsdamer Platz in Berlin wird gelästert, das Magazin sei eine »Billigausgabe« der Woche oder eine Gewerkschafts-taz. Der Chefredakteur Martin Kempe, ein Mitbegründer der taz, hat eine Handvoll Autorinnen und Autoren aus dem Umfeld des einstigen Alternativblattes ins Haus geholt. Das Miteinander in der 13köpfigen Redaktion sei konfliktbeladen, die neu eingekauften Redakteure und die aus den Mitgliedszeitschriften der fusionierten Einzelgewerkschaften kommenden Redakteure trenne ein »tiefer Graben«, ist zu hören, oder noch drastischer: »Hier ist Krieg!« Kempe relativiert: »Hier wird hart, aber fair diskutiert.« Dass er die Gewerkschaftspresse neu erfinden will, nehmen ihm die alten Haudegen übel.

Die Süddeutsche Zeitung schätzt die Lage so ein: »Die personelle Kombination ist nicht ganz frei von Konflikten - Grund für einige frustrierte Altredakteure und plötzlich entbehrlich gewordene freie Mitarbeiter der Publik-Vorgängermedien, in Spiegel und Focus Stimmung gegen das neue Gewerkschaftsblatt zu machen.« Und in der Berliner Morgenpost ist zu den Konflikten zu lesen: »Entsprechende Presseberichte der vergangenen Wochen weist Publik-Chefredakteur Martin Kempe nicht grundsätzlich zurück.«

Spannender Journalismus ist in der ersten Ausgabe die Ausnahme. Der gut gemeinten Reportage über den Besuch von straffälligen Jugendlichen aus der rechten Szene in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald fehlt der für die Textlänge notwendige Spannungsbogen.

Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul lieferte einen Pro- und Ulrich Ramm, Chefvolkswirt der Commerzbank, einen Kontra-Beitrag zum Thema Devisenspekulationssteuer. Kapitalisten haben eigentlich genügend Blätter, in denen sie sich ausbreiten dürfen. Vergebens sucht man nach einem Beitrag über die Verdi-Konferenz zu Schilys Sicherheitsgesetzen. Auch der 11. September und die Folgen fehlen. Keine Zeile findet sich zur Krise in Argentinien und zum globalisierungskritischen Netzwerk Attac.

Dass es seit 1921 in einem Krankenhaus der Diakonie erstmals wieder einen Streik gibt, keine Zeile! Über das Verdi-New-Media-Projekt connexx.av und die Betriebsratswahl beim Multimedia-Unternehmen ID-Media in Berlin heißt es: »In einem Online-Forum konnten die Mitarbeiter offen diskutieren - sehr zum Leidwesen der ID-Media-Aktie.« Das erweckt zumindest den Anschein, als gäbe es zwischen gewerkschaftlichem Engagement und dem Aktienkurs einen Kausalzusammenhang. Eher dröge sind die Beiträge über Tarifrunden und Betriebsratswahlen. Dafür aber jede Menge Fotos von sitzenden Menschen.

Nur zu einem »geringen Teil« habe Kempe Anregungen von außen angenommen, so Claudia Langen von der Bertelsmann-Stiftung. Sie war neben Beate Wedekind (Gala), Wolfgang Storz (Frankfurter Rundschau) und Maria Kniesburges von der Evangelischen Medienakademie Berlin in dem Baratungsgremium tätig, mit dem sich Kempe umgab. »Kempe demonstrierte so in Richtung Vorstand, dass er sich kompetente Beratung holt. In Wirklichkeit waren wir eine Alibi-Veranstaltung«, so ein Beiratsmitglied. Das Blatt sei »ziemlich verspielt, es fehlt die Klarheit«, war Kniesburges' Fazit nach Durchsicht der Nullnummer. Die ist auch bei Bsirske durchgefallen. Dem Blatt fehle Biss, grollte er. Kempe sagt, »darüber wurde diskutiert«. Von der Diskussion zur Umsetzung scheint es ein weiter Weg zu sein. Der ersten Nummer ist es nicht anzumerken, dass sich im Vergleich zur Nullnummer etwas gerändert hat. Und Bsirske muss das Blatt jetzt schönreden.

»Die Mitglieder und ihre Teilhabe an der Gestaltung der Organisationspolitik - das macht die Stärke der Gewerkschaften aus. Diese Teilhabe kann nur offen und damit öffentlich sein. Wo anders als in den eigenen Medien sollen solche Debatten gemeinsam geführt werden können?«, so FR-Mann Storz zur Funktion der Gewerkschaftsmedien. Dieser geradezu klassische Lehrsatz scheint für einen Teil der Publik-Redaktion eine Leerformel zu sein. Denn über das Binnenleben von Verdi erfährt man so gut wie nichts. Das Blatt könnte als vertane Chance in die Gewerkschaftsgeschichte eingehen.

Eine Zeitung, die an das Anzeigenwochenblatt, die Wochenzeitung von vergangener Woche oder an die Tageszeitung von gestern erinnert, wird schnell dem Altpapiercontainer übergeben. Das wäre schon wegen der vielen Bäume, die für 400 Tonnen Papier gefällt werden müssen, ziemlich schade. Und die Unterzeile im Zeitungstitel »Solidarität im neuen Format« gibt auch Rätsel auf.