»I. T.« von Gahité Fofana

Wo ist zu Hause?

Gahité Fofanas »I. T.« zeigt die Kinder einer westafrikanischen lost generation.

Ein alter Bus fährt uns über eine rote Staubpiste hinein in diese Geschichte, ins westafrikanische Land Guinea-Conakry. Hier liefert der Film sein einziges Reiseprospektbild: der Himmel ist noch blau, Vegetation säumt die Straßenränder, der Blick verliert sich in einer Fernreisen-Ferne. Was dann folgt, bedient keine Postkartenträume mehr.

Ein Reisender führt uns ein in eine urbane, arme, stolze Welt: Mathias, Afrofranzose, Sohn einer weißen Mutter und aufgewachsen in Paris, will seinen Erzeuger kennen lernen. Er sucht ihn in der Provinzstadt Fría. Mathias ist ein Naiver, ein unbeholfener Hulk. Er hat keinen Plan, er lässt sich treiben. Er spricht wenig, und nie wird man ihn lächeln sehen. Nicht aus Coolness, sondern weil er sich nicht wohl fühlt in seiner Haut. Wo geht die Kraft hin, die irgendwo stecken muss in diesem bulligen Körper?

Vielleicht in das fortwährende Bemühen, dem Fremdsein ein Weitermachen abzutrotzen. Es ist mit den Händen zu greifen, dass er das kennt. Gegen Ende der Geschichte zweifeln seine Landsleute von der französischen Botschaft seine Herkunft an und er reagiert, als passierte ihm das nicht zum ersten Mal. Mathias ist ein Guide ohne Orientierung. Gleich zu Beginn des Films wird er ausgeraubt und hat außer einem Bündel viel zu großer Geldscheine nichts mehr, das ihm gehört; kein Persönlichkeit stiftender Besitz kann seine Leere, seine Verletzbarkeit mehr kaschieren.

»I. T. (Immatriculation temporaire)« heißt der Film des Regisseurs Gahité Fofana, »Vorübergehende Aufenthaltserlaubnis«. Es ist der erste Spielfilm Fofanas, setzt aber eine Auseinandersetzung fort, die der Regisseur in seinen drei vorangegangenen Dokumentarfilmen begonnen hat. Seine Eltern flohen in den Sechzigern vor dem Regime von Sékou Touré aus Guinea ins französische Exil. In seinen Dokumentarfilmen kehrt der Regisseur in dieses Land zurück, zuletzt in »Mathias«, dem Porträt eines zum Tode Verurteilten. Man kann davon ausgehen, dass Fofana in der Figur des Mathias, den er auch selbst spielt, seine persönliche Forschung mit dem Schicksal seines Dokfilm-Protagonisten kombiniert hat.

Mathias' Gesicht ist ausdruckslos, man soll ihm nichts ablesen können. Vielleicht lernt er etwas aus seinen Begegnungen, vielleicht begreift er aber auch gar nichts. In jedem Fall erlebt er am eigenen Leib, was die Ethnologen Reziprozität nennen, wie eine Gesellschaft das Zusammenleben in einem fein austarierten System von Leistung und Gegenleistung organisiert.

Da gibt es etwa den Kleingangster John Tra. In einer westlichen Lesart wäre er der Abzocker des unschuldigen Touri-Opfers, doch wenn das, was der Gauner mit dem Identitätssucher anstellt, wirklich ein Bestehlen auf Raten sein sollte, dann eines mit großem Service am Kunden. Tra bietet vieles, das Mathias' Geld allemal wert ist: Gastfreundschaft, Schutz, Hilfe bei der Suche und auch einfach gemeinsam verbrachte Zeit, sozusagen Spaß. Vor allem gibt er einen Einblick in sein Leben oder zumindest eine Außenansicht davon, wie das moderne Afrika auch aussieht: Wohnblocks mit Perspektiven aus mehrstöckiger Höhe, Bars, Rap, Basketball im Schein von Siedlungslaternen. Es eine kluge, kinogerechte Methode, Mathias' Verwirrtheit nicht schauspielerisch ausdrücken, sondern sie in seiner Umgebung zu spiegeln.

So wenig wie Mathias' Verhältnis zu Tra eindeutig von Ausbeutung geprägt ist - weshalb er auch nicht zum Bösewicht taugt und Mathias nicht zum Deppen -, so wenig transparent wird seine Beziehung zu Rama. Sie erscheint in der Geschichte wie die dialektische Entsprechung von Tra. Sie ist die Frau, aber ist sie tatsächlich Tras Schwester? Sie treibt Mathias an, wo Tra ihn hinhält. Aber will sie mehr als materiellen Vorteil, Liebe gar? Möglich, aber wir werden ohne ein Bild dafür auskommen müssen, wie diese Liebe aussehen könnte. Zwar teilen beide von Anfang an das Bett, aber das Paar bleibt immer nur ein mögliches, ähnelt eher einer Mutter-Adoptivsohn-Verbindung. Mathias ist asexuell. Wenn er Rama begehren sollte, dann lässt das der Panzer seiner Wirrnis nicht zu einer Handlung werden.

Eine Fabrik ist in den Bildern allgegenwärtig, aus zwei Schloten pafft sie dünne Rauchwolken in den milchig-grauen Himmel von Fría. Ohne diese Fabrik würde Mathias nicht existieren. Seine weißen Eltern - so viel erfahren wir dann doch über einen ansonsten mit keinerlei Biografie ausgestatteten Helden - kamen hierher, weil sein Vater als Ingenieur arbeitete. Seine Mutter hatte eine Affäre mit einem Angehörigen der einheimischen Elite. Doch als Mathias des Nachts heimlich in das Gelände eindringt, wirkt die Anlage wie eine Geisterbahn an Regentagen. Die Bänder laufen, aber bis auf einen behelmten Arbeiter sind keine Menschen zu sehen. Wer produziert hier was? Für wen? Warum? Wir werden es nie erfahren, weil Mathias selbst nicht weiß, was er in der Fabrik zu suchen hat.

So gelingt eine Darstellung der Außenwelt, die zusätzlich innere Vorgänge anschaulich macht. Die große, ungerührt ihr Pensum abliefernde Maschine verdoppelt Mathias' ratlose Indifferenz. Gleichzeitig steht sie für sich, für nüchternes Weiterfunktionieren, für eine Zeit, die angebrochen ist nach einer Phase von Träumen, für Enttäuschungen, die schon lange selbstverständlich geworden sind. Tra, Rama und eben auch Mathias sind die Brut des Neokolonialismus, gezeugt, als die Forderung nach wirtschaftlicher und politischer Unabhängigkeit die Welt zu ändern schien. Jetzt finden sie sich - beinahe erstaunt - als lost generation wieder.

Als Mathias schließlich seinem Vater gegenübersitzt, bleibt jede Erlösung aus. Wortlos gibt der junge dem alten Mann Geld und verschwindet wieder. Ist es Scham, wenn der Vater am nächsten Tag nach Mathias sucht und er ihm den Status des Sohnes zuerkennt? Oder hat sich für ihn Mathias einfach adäquat verhalten in einer Ordnung, in der unbedingter Respekt gegenüber den Älteren gerne die Form materieller Zuwendungen annehmen darf?

Jedenfalls kommt der Vater zu spät: Gegen den Rat von Rama schließt sich Mathias einem kriminellen Vorhaben John Tras an. Am Ende verwandelt sich »I. T.« in einen minimalistischen Film Noir, John Tra liegt schwer verletzt im Fond eines Jeeps. Jetzt sitzt Mathias hinter dem Steuer. Nur: Im Gegensatz zu E.T. muss dieser scheue Space-Drifter seine Definition von »zu Hause« erst noch finden.

Dank an Branwen Okpako und Silvia Schneider

»I.T.«, Guinea/Frankreich 2000. R.: Gahité Fofana. Start: 28. Februar