Anaconda ohne Biss

Den westlichen Interventionsstaaten ist es nicht gelungen, die Macht der afghanischen Interimsregierung zu stabilisieren. Die Kämpfe im Osten des Landes könnten der Auftakt zu einem Guerillakrieg sein.

Anacondas sind träge und können sich an Land nur langsam bewegen. Wer sie rechtzeitig bemerkt, kann ihnen entkommen. Deshalb lauern die Riesenschlangen im Hinterhalt, um ihre Beute zu überraschen. Einmal umschlungen, hat das Opfer keine Chance. Es wird erstickt und dann in einem Stück verschlungen. Anschließend ruht das Reptil für einige Tage oder Wochen, während es verdaut.

Jene Pentagon-Angestellten, die der Operation »Anaconda« ihren Namen gaben, hatten wohl vor allem den Würgegriff der Riesenschlange im Sinn. Doch die ausersehene Beute, die Taliban und al-Qaida-Kämpfer, die sich im Höhlensystem von Shah-i-Khot, etwa 100 Kilometer südlich der ostafghanischen Stadt Gardez, verschanzt hatten, war nicht überrascht und erwies sich als schwer verdaulich.

Die erste Bodenoffensive der US-Truppen und ihrer afghanischen Verbündeten endete Anfang März mit schweren Verlusten. Acht US-Soldaten starben, ein Hubschrauber wurde abgeschossen, fünf weitere schwer beschädigt. Zuverlässige Angaben über die Verluste auf afghanischer Seite gibt es nicht. Seit diesem Rückschlag scheinen sich die US-Truppen darauf zu beschränken, für die aus sicherer Höhe operierenden Bomber Ziele zu markieren.

Etwa 2 200 Soldaten aus sechs Staaten haben unterdessen einen Belagerungsring um das Kampfgebiet gezogen. Den islamistischen Kämpfern, von denen nach Angaben des Pentagons noch einige Hundert am Leben sein sollen, steht eine gewaltige militärische Übermacht gegenüber. Dennoch schätzte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld am Samstag, es könne noch »sieben, acht, zehn Tage« dauern, bis die Schlacht siegreich beendet sei. Und weitere Einsätze ähnlicher Art könnten folgen: »Wir werden dies vielleicht in anderen Teilen des Landes tun müssen.«

In der Provinz Gardez und anderen Regionen Ostafghanistans operieren weitere Gruppen von Taliban und al-Qaida-Kämpfern. Möglicherweise haben sich die Islamisten in Shah-i-Khot bewusst der Konfrontation gestellt, um kleineren Guerilla-Einheiten die Gelegenheit zu geben, sich ungestört bewegen zu können. Die Vorbereitungen für die Offensive, die bereits Mitte Januar begannen, waren ihnen jedenfalls nicht entgangen. Die Islamisten hatten Shah-i-Khot nicht zuletzt deshalb als Rückzugsgebiet gewählt, weil es in der Region viele Sympathisanten der Taliban gibt. So waren sie nicht nur über die militärischen Vorbereitungen informiert, sondern können auch darauf hoffen, dass sich bei längeren Kämpfen andere bewaffnete Fraktionen dem Kampf gegen die US-Truppen anschließen.

Selbst Taj Mohammad Wardak, der kürzlich ernannte Gouverneur von Gardez, hat die US-Offensive kritisiert: »Die Amerikaner sollten nicht alle Taliban bombardieren. Es gibt gute Taliban und es gibt schlechte Taliban. Wir sollten die Rückkehr der guten Taliban akzeptieren.« Dass sich die USA mit dem Warlord Badsha Khan verbündeten, ist zudem auch bei Fraktionen, die loyal zur Interimsregierung Hamid Karzais stehen, auf Widerspruch gestoßen. Badsha Khan wird für Falschinformationen verantwortlich gemacht, die dazu führten, dass die US-Luftwaffe am 20. Dezember einen Konvoi bombardierte, in dem sie al-Qaida-Kämpfer vermutete. Die 65 Toten waren Rivalen Badsha Khans, aber Verbündete der Interimsregierung.

Mangels zuverlässigerer Verbündeter kann es sich das Pentagon nicht leisten, nachtragend zu sein. Auch dass man zur Verstärkung des Belagerungsrings Truppen der Nordallianz heranschaffen musste, spricht dafür, dass in der Region nur wenige bereit sind, mit den USA zu kooperieren. Denn die Ankunft der Truppen aus dem Norden stieß sofort auf Widerstand. Eine von Notablen und Militärkommandanten aus elf Distrikten der Provinz Paktia entsandte Delegation protestierte beim US-Kommandanten in Gardez, und Badsha Khan erklärte: »Wir brauchen keine neuen Kräfte, am wenigsten aus Nordafghanistan.«

Zumindest in Teilen Süd- und Ostafghanistans könnten Taliban und al-Qaida-Kämpfer ausreichende Unterstützung in der Bevölkerung für einen Guerillakrieg finden. Ob die islamistische Kalkulation aufgeht, durch eine solche Konfrontation eine internationale Mobilisierung gegen die »Ungläubigen« auszulösen, ist dennoch fraglich. Direkte Unterstützung erhalten Taliban und al-Qaida vor allem von pakistanischen Islamisten. »Wir beten für ihren Erfolg«, erklärte Rana Tahir von der militanten Organisation Jaish-e-Mohammad. Doch nicht alle Islamisten schließen sich diesem Gebet an.

So hatte das iranische Regime in der Hoffnung, die Beziehungen zum Westen verbessern zu können, zunächst die afghanische Interimsregierung anerkannt und sogar großzügige Finanzhilfe versprochen. Doch die US-Regierung fürchtet die Folgen iranischer Einflussnahme auf die afghanische Innenpolitik, Präsident George W. Bush erklärte den Iran zum Teil der »Achse des Bösen«. Und dass sich der Iran auf einer am Samstag von der Los Angeles Times veröffentlichten Liste von Staaten befindet, gegen die nach Ansicht der US-Regierung ein Atombombeneinsatz notwendig werden könnte, hat die Mullahs nicht milder gestimmt.

Die Interimsregierung »muss darauf achten, den Vereinigten Staaten keine Konzessionen zu machen«, warnte Ali Akbar Rafsanjani, ehemaliger Präsident des Iran und noch immer eine der einflussreichsten Persönlichkeiten des Landes. Er prophezeite, »der afghanische Kampf gegen die Taliban und die internen Kämpfe in Afghanistan könnten zu einem Krieg des Widerstandes gegen die ausländische Besatzung werden«. Wozu man mit der Unterstützung des westafghanischen Warlords Ismail Khan und der Hizb-i-Islami Gulbudin Hekmatyars, zweier Taliban-feindlicher islamistischer Fraktionen, die nicht in die Interimsregierung integriert sind, wohl einen Beitrag leisten wird.

Die russische Regierung scheint eine ähnliche Doppelstrategie zu verfolgen. Offiziell unterstützt auch sie die Interimsregierung, verhandelt hat man aber bislang nur mit deren Verteidigungsminister Mohammad Fahim, einem Mitglied der Nordallianz, des traditionellen Verbündeten Russlands. Wie der Iran ist auch Russland besorgt über die Präsenz von Truppen diverser Nato-Länder in Mittelasien und in Georgien. Beiden Staaten kann zudem unterstellt werden, dass sie kein Interesse an einer langfristigen Stabilisierung Afghanistans haben. Denn dann würden die derzeit auf Eis gelegten Pläne zum Bau einer Pipeline durch das Land wieder aktuell, was die russische und iranische Position in der Konkurrenz um die Erschließung der Energievorräte Mittelasiens schwächen würde.

Die fast ausschließlich aus Soldaten westlicher Staaten bestehende internationale Sicherheitstruppe (Isaf) hat bisher keine Mittel gegen die innerafghanischen Machtkämpfe und die inoffiziellen Interventionen von iranischer und russischer Seite gefunden. Sie kann zwar auf die Sympathie großer Teile der Bevölkerung zählen, zumindest in Kabul, wahrscheinlich aber auch in den meisten anderen Regionen des Landes. Diese Sympathie beruht jedoch, ebenso wie die weit verbreitete Unterstützung für den Ex-König Zahir Schah und seinen Vertreter Karzai, auf der Logik des kleineren Übels. Nach mehr als zwanzig Jahren Bürgerkrieg erscheint die Zeit der Monarchie im Rückblick als goldenes Zeitalter, und verglichen mit dem Terror der Taliban und der Warlords erscheint selbst eine von westlichen Soldaten ausgeübte militärische Kontrolle als Fortschritt.

Die Sympathie wird jedoch nicht zu politischer Unterstützung, und auch einen Emanzipationsprozess hat der Sturz des Taliban-Regimes nicht in Gang gesetzt. In den Kriegsjahren hat sich die Warlordisierung verfestigt, und ein kapitalistisches System, das selbst für das vergleichsweise hoch entwickelte Argentinien keine Lösung weiß, hat für Afghanistan erst recht keine Alternative jenseits der illegalen Ökonomie der Opiumwirtschaft. Derzeit wird in Afghanistan nach Erkenntnissen der UN-Drogenkontrollbehörde UNDP wieder verstärkt Opium angebaut.

Um sich nicht allein auf die militärisch schwache Fraktion Karzais und die Gewalt ihrer eigenen Waffen stützen zu müssen, haben sich die Interventionsmächte mit den Warlords der Nordallianz verbündet und auch die Reintegration vieler »guter Taliban« akzeptiert - eine halbherzige Strategie zwischen nation building und Akzeptanz der realen Machtverhältnisse, die weder die Warlords noch die Bevölkerung zufrieden stellt.