Neue Kurzgeschichten von Kurt Vonnegut

Buddhistische Nickerchen

In Kurt Vonneguts frühen Brotarbeiten blitzt die Antimoderne auf.

Dass Autoren nicht zu ihren besten Kritikern gehören, ist bekannt. Ebenso wie ihre manchmal kokette, manchmal aber auch ehrlich empfundene Unzufriedenheit mit ihren so genannten Brotarbeiten, ich meine jene quasi-apokryphen Texte im Werk, zumeist Kritiken, Feuilletons und Kurzgeschichten, deren Ästhetik dominiert wird von der Notwendigkeit des Autors, die eigene Subsistenz zu sichern.

Kurt Vonnegut hat ein entspanntes Verhältnis zu seinen frühen Erzählungen, die Anfang der fünfziger Jahre, in der späten Blüte des Magazinwesens, in amerikanischen Wochen- und Monatszeitschriften erschienen sind und die jetzt zum ersten Mal auf deutsch vorliegen. Das liegt zum einen daran, dass sein Ruf gefestigt, sein Werk kanonisiert ist und durch vermeintlich schwächere Juvenilia keinen Bedeutungsverlust mehr zu befürchten hat, im Gegenteil, durch den Kontrast womöglich noch an Dignität gewinnt - im Sinne von »Man muss ganz unten gewesen sein, um ...«!

Zum anderen weiß Vonnegut, was er diesen frühen Arbeiten verdankt. »Kurzgeschichten können, bei aller gebotenen Kürze, Größe haben. Einige haben mich von den Socken gehauen, als ich noch auf der High School war«, schreibt er in der ganz wundervollen, zwischen biografischer Skizze, poetologischer Programmschrift und Sudelbuch schwankenden »Einführung«. »Aber in dieser oder in meiner anderen Sammlung (gemeint ist 'Welcome to the Monkey House'; F.S.) ist keinerlei Größe zu finden, und das war auch gar nicht beabsichtigt. Meine eigenen Geschichten mögen trotzdem als Überbleibsel aus einer Zeit interessant sein, bevor es Fernsehen gab, als ein Autor eine Familie noch durch das Schreiben von Geschichten ernähren konnte, die unkritische Zeitschriftenleser zufriedenstellte, wodurch er genug Freizeit bekam, um ernsthafte Romane zu schreiben.«

In diesem Sinne symptomatisch, also ein Zeitdokument, sind die Geschichten in der Tat - und zwar auch für die soziokulturelle Befindlichkeit der USA in den goldenen Fünfzigern, aber eben doch nicht nur. Und das weiß auch Vonnegut.

Ein paar Seiten später widerspricht er nämlich indirekt seiner Beteuerung, um wirkliche, das heißt »ernsthafte« Literatur handele es sich hierbei gar nicht. Offensichtlich nostalgisch berührt, schildert er hier eine Familienszene, die im Grunde nichts anderes ist als eine Apotheose dieser kleinen, scheinbar unbedeutenden Magazin-Literatur: Der 16ährige Kurt kommt von der Schule nach Hause, er ist unbeliebt bei seinen Mitschülern, gelangweilt, das Wetter ist schlecht, also beginnt er in der herumliegenden Saturday Evening Post zu blättern: »Während ich lese, verlangsamen sich Puls und Atmung. Mein Ärger über die Schule fällt von mir ab. Ich befinde mich in einem angenehmen Zustand, irgendwo zwischen Schlaf und Erholung.« Ein paar Stunden später kommt sein Vater gestresst von der Arbeit. »Ich nehme die Zeitschrift und schlage die Geschichte auf. Vater ist müde und deprimiert. Vater fängt an zu lesen. Sein Puls und seine Atmung verlangsamen sich. Sein Ärger fällt von ihm ab, und so weiter.«

Für Vonnegut ist dies der Beweis, »dass eine Kurzgeschichte wegen ihrer physiologischen und psychologischen Wirkung auf den Menschen den buddhistischen Meditationsformen näher verwandt ist als jede andere Form erzählerischer Unterhaltung«. Insofern habe man mit diesem Buch hier einen ganzen »Packen buddhistischer Nickerchen«. Das ist schön gesagt. Aber damit die Geschichten überhaupt derartige Wirkungen haben können, müssen sie eben doch etwas taugen. Und das tun sie durchaus, wenn auch in unterschiedlichem Grade.

Handelt es sich in den ersten beiden Geschichten tatsächlich noch um kleine, ein bisschen vorhersehbare und also nicht sonderlich komische Satiren aus dem Angestelltenmilieu, so erscheint mir die darauf folgende nachgerade klassische Gelehrtensatire um den obersten Musiklehrer und Leiter der hundert Mann starken Kapelle der Lincoln High School, George M. Helmholtz, schon weitaus gelungener zu sein.

Helmholtz, der noch in zwei weiteren Geschichten auftaucht, gibt den genretypischen Fachidioten: »Er hatte so lange gesungen und so heftig um seine Kapellen gebangt, dass sein Leben nur noch in Form von Kapellen stattfand.« Und am Ende jeder der drei Geschichten macht ihn ausgerechnet einer seiner Schüler auf die eigenen sozialen oder emotionalen Defizite aufmerksam. Alle drei Erzählungen zeichnen sich aus durch einen leicht skurrilen, angenehm zurückgenommenen, fast verstohlenen Witz, ruhige, schlichte, aber lebenspralle Dialoge und durch die philanthropische Warmherzigkeit, mit der Vonnegut seine Protagonisten zeichnet. Nicht zuletzt sei auch auf den tiefen Ernst verwiesen, mit dem er deren Alltagskatastrophen schildert.

Hier passiert nichts, was die Welt in ihrem Lauf beeinflussen würde - ein musikalisch unbegabter, aber brennend ehrgeiziger Schüler schafft es nicht in die A-Kapelle, ein anderer kann in der Öffentlichkeit nicht spielen, weil es ihm an Selbstvertrauen fehlt, wieder ein anderer sieht in Helmholtz den Vater, den er nie hatte, und fühlt sich schließlich zurückgestoßen, als er keine Privatstunden mehr von ihm bekommt -, aber Vonnegut lässt keinen Zweifel daran, dass es sich dennoch um etwas Essentielles handelt.

Noch mehr Triftigkeit bekommen die Kurzgeschichten, wenn es ums Ganze geht, das heißt bei Vonnegut, wenn der Krieg ins Spiel kommt. Sein Kollege am New Yorker City College, Joseph Heller, der Autor von »Catch 22«, habe ihm mal erzählt, schreibt Vonnegut im Vorwort, »wenn der Krieg nicht gewesen wäre, hätte er jetzt eine chemische Reinigung. Ich sagte ihm, wenn der Krieg nicht gewesen wäre, würde ich jetzt das Garten-Ressort beim Indianapolis Star betreuen.« Und diesen existenziellen Schreibimpuls scheint man den einschlägigen Texten noch anzumerken. Ganz grandios etwa die Story vom Veteranen, der wegen einer schweren Verletzung aus der Armee ausscheiden muss und nun ziellos, unglücklich, ohne Selbstvertrauen eine bessere Penner-Existenz fristet, bis er zusieht, wie eine Schulklasse Blumen an dem Gedenkstein eines gefallenen Freundes niederlegt.

Vonnegut ist hart, ehrlich, frei von Schlachtenromantik und Armeeverherrlichung, aber auch realistisch genug anzuerkennen, dass die Armee für viele Menschen nicht nur in der Großen Depression der letzte Ausweg war. Hier hatten sie ein Dach über den Kopf, bekamen genug zu essen und nicht zuletzt eine ausreichende Portion Sinn vorgesetzt. Wie fragwürdig der war, muss uns Vonnegut nicht explizit sagen, da reicht ein wenig saure Ironie: »Er verbrachte siebzehn Jahre in der Army, betrachtete die Erde als Gelände, die Hügel und Täler als etwas, was man unter Dauerbeschuss nehmen oder wo man bei Dauerbeschuss in Stellung gehen konnte, den Horizont sah er als etwas, von dem sich ein Mann nie klar als Silhouette abzeichnen sollte, die Häuser und Wälder und Dickichte sah er als Deckung. Es war ein gutes Leben, und wenn er es satt hatte, kriegsmäßig zu denken, besorgte er sich ein Mädchen und eine Flasche, und am nächsten Morgen konnte er dann wieder kriegsmäßig ein bisschen weiterdenken.«

Und noch etwas leisten diese Erzählungen, vielleicht gerade weil sie so konventionell sind: Sie lassen die mythische Kleinstadt wieder aufleben, den immer wieder kitschig illuminierten, detailpusselig ausstaffierten Sehnsuchtsraum vieler Amerikaner, wie man ihn aus vielen Büchern und Filmen genau kennt.

Hier hat man ihn nochmal aus erster Hand: Die Post wird noch selbst abgeholt, und hinter dem Tresen steht eine ältere lebensfrohe Dame, die gegen ein Schwätzchen kaum etwas einzuwenden hat. Überhaupt haben die Menschen viel Zeit, etwa um auf Tontauben oder Krähen zu schießen, und wissen ein gutes Steak zu schätzen. Die patriarchalischen Familienstrukturen sind noch nicht vom Emanzipationsgeist aufgeweicht, Kinder tun noch das, was ihre Väter ihnen sagen, und man lebt in einer relativ übersichtlichen, homogenen Gemeinschaft.

Es ist die Antimoderne, die in diesen Erzählungen fröhliche Urständ feiert und die ich mir erstaunlicherweise nur in Schwarzweiß vorstellen kann. Und umso erstaunlicher ist, dass einen dieser nostalgische Schauer dann doch überfällt, rationaler Bedenken ungeachtet, und dass er einen überfällt, obschon man diese güldene Menschheitsepoche nur ästhetisch vermittelt kennt. Aber man kennt sie eben trotzdem ganz genau.

Kurt Vonnegut: Suche Traum, biete mich. Verstreute Kurzgeschichten. Aus dem Amerikanischen von Harry Rowohlt. Hanser Verlag, München/Wien 2002, 253 S., 19,90 Euro