Wacklige Beweislage

Racak revisited

Die Anklage gegen Slobodan Milosevic basiert auf Beweisen, die zum Teil längst widerlegt sind. Eine Prozessanalyse

Die Frage, ob Slobodan Milosevic überhaupt vor ein Gericht gehört, ist angesichts des in Den Haag laufenden Prozesses gegen den ehemaligen Präsidenten Serbiens und Jugoslawiens müßig. Eher müsste man fragen, ob ihm konkrete Straftaten nachzuweisen sind.

Die Antwort ist eindeutig - und die Delikte würden locker ausreichen für viermal »lebenslänglich«: Diebstahl von umgerechnet 2,9 Milliarden Euro bei serbischen Devisensparern 1991, Ausraubung der serbischen Nationalökonomie um 3,5 Milliarden US-Dollar, über 30 inszenierte politische Attentate und Morde (z.B. seines »Ziehvaters« Ivan Stambolic), blutige Überfälle auf unabhängige Radiostationen (wie B92), Gewaltherrschaft über einst autonome Gebiete (Vojvodina, Sandschak, Kosovo).

Würde die serbische Bevölkerung einen solchen Prozess mittragen? Mit absoluter Mehrheit, wie schon vor einem Jahr Umfragen zeigten. Vorausgesetzt, der Prozess fände in Serbien statt.

Jetzt aber steht Milosevic vor dem Haager Uno-Kriegsverbrechertribunal (ICTY) in einem Prozess, der schlecht vorbereitet, juristisch fragwürdig und politisch ein Fiasko ist. Eine Uno-Institution, die vorgibt, dem Rechtsempfinden der Menschheit entsprechend zu handeln, degradiert sich zur Bühne einer prozessualen Komödie, die eventuell mit einem Freispruch des Angeklagten enden wird, ihm bis dahin aber Raum und Zeit gibt, eine populistische Show abzuziehen. Und mindestens zwei Jahre lang wird das so weitergehen, bei einem Kostenaufwand von 6 000 Euro pro Prozessstunde.

Milosevic lehnt das ICTY ab als »Teil eines internationalen Mechanismus zur Vernichtung des serbischen Volks«, das heißt, er nährt geschickt die südosteuropäische Angst vor westlicher »Siegerjustiz« und die spezifische serbische Angst, als »Volk« einer exklusiven Kollektivschuld für alle Kriege ausgesetzt zu werden. Er verzichtet bewusst auf einen Verteidiger und plädiert in eigener Sache. Eine Probe davon lieferte er am 19. Februar, als er stundenlang den kosovo-albanischen Altkommunisten Mahmut Bakalij auseinandernahm, um diesen Zeugen der Anklage zum Zeugen für »großalbanische« Pläne und UCK-Terror umzufunktionieren.

Weit über 200 Zeugen hat die Anklage aufgeboten, von denen 90 auch vor Gericht erscheinen werden. Was wird Milosevic erst mit denen anfangen? Wozu er seine Zeugen - Bill Clinton, Tony Blair, Gerhard Schröder und andere - einsetzen wird, hat er schon am 15. Februar dargelegt: »Sie werden mir erklären müssen, warum sie mir acht Jahre lang jede Unterstützung gaben, um jetzt zu behaupten, dass das eine Zeit des Genozids und der Verbrechen war.«

Das ICTY hat 66 Einzelklagen zu drei Großanklagen zusammengefasst und diese wiederum in einem Prozess vereinigt. Es geht um Völkermord und Kriegsverbrechen in Bosnien, Kroatien und im Kosovo. Dieses Zusammenlegen ist schon mit Blick auf die räumlichen und zeitlichen Distanzen der drei Kriegsschauplätze ein Unding. Definitorisch nicht weniger: Waren es Angriffs- oder Bürgerkriege, und entfällt der Vorwurf des Genozids völlig, wenn die Richter zum Befund »Bürgerkrieg« kommen? Chefanklägerin Carla del Ponte glaubt, mit dem »roten Faden« von Milosevics »Großserbien«-Plan derartige Zweifel ausgeräumt zu haben.

Ob das gut geht? Milosevic galt zu Recht immer als mieser Stratege, dessen politischer Horizont niemals bis zu einem »Großserbien« reichte, denn andernfalls hätte er die Serben in Kroatien und Bosnien härter an die Kandare genommen und anders instrumentalisiert. So aber konnte er 1995 in Dayton als Sprecher der bosnischen Serben auftreten und das Friedenspaket unterzeichnen. Und dass kein kroatisches Land auf Dauer an Serbien attachiert würde, hat er seinem kroatischen »Zwilling«, dem »Führer« Franjo Tudjman, ausdrücklich versprochen, als beide die Aufteilung Bosniens verabredeten.

Hier werden Geschichte und große Politik in den Gerichtssaal kommen, die nicht die Aufgabe des Gerichts und schon gar nicht die Stärke von Carla del Ponte sind. Was nicht heißen soll, dass andere Passagen der Anklage überzeugender sind. Denn die wird der Taktiker Milosevic noch leichter aushebeln, wozu ihm die britische Rechtsbasis des ansonsten multinationalen Gerichts mehr als eine Gelegenheit geben wird.

Da ist zum ersten das Prinzip der command responsibility, also die Vermutung, dass er als oberster politisch Verantwortlicher Kriegsverbrechen angeordnet, geduldet oder nicht verhindert hat. Die Antwort könnte in Dokumenten liegen, die es nicht gibt, in Geheimdiensterkenntnissen des Westens, die nicht offen gelegt werden, oder in Zeugenaussagen, die schwer zu bekommen und noch schwerer abzuschätzen sind.

Anderenfalls hätte sich der ICTY-Ankläger Geoffrey Nice nicht Ende Januar vergebens in Belgrad bemüht, mit Milosevics einstigen engsten Vertrauten - Vizepremier Nikola Sajnovic, Oberbefehlshaber Dragoljub Odajnic und anderen - Deals zu verabreden, als »geschützte Zeugen« gegen ihren ehemaligen Vorgesetzten auszusagen.

Und da sind schließlich Einzelpunkte der Anklage, die seit langer Zeit widerlegt sind. Milosevic hat bei seinem ersten Auftritt Teile des WDR-Films »Es begann mit einer Lüge« verwendet. Für die Filmemacher war das sicher Beifall von der falschen Seite, aber recht hatten sie doch, als sie Anfang 2001 detailliert nachwiesen, dass es die »Aktion Hufeisen«, das »Massaker von Racak« und vieles andere nicht gegeben hatte, was die Nato später zur Legitimation ihrer komplett verfehlten Kosovo-Mission anführte.

Details waren schon Monate zuvor im Prager Tyden und anderen osteuropäischen Blättern nachzulesen, zuletzt am 17. Januar im Belgrader Nin, der in einer Beilage nochmals alle Indizien gegen das angebliche »Massaker von Racak« auflistete. Ganz oben standen die Befunde des westlichen Pathologenteams unter Helena Ranta, das an den Körpern der Toten keine Pulverspuren gefunden hatte, wohl aber an deren Händen. Und das ließ nur den Schluss zu, dass in der gut ausgebauten UCK-Festung Racak ein Kampf stattgefunden hatte, kein Massaker.

Das Kriegsverbrechertribunal weiß nicht, was es will - wenn es etwa die command responsibility und den Einsatz von Paramilitärs im Kosovo unter einen Hut bringt. Und mit seinem politischen Verständnis ist es auch nicht weit her. Beispielsweise hat Milosevic die Flüchtlingstragödie nicht ausgelöst, um die Kosovo-Albaner zu bedrängen, sondern um Zwietracht unter den Nato-Alliierten zu säen, zumal erst deren Bomben den Flüchtlingsstrom anschwellen ließen. Und es gibt weitere Kurzsichtigkeiten.

Am Ende werden vielleicht ein glücklicher Serbe, der freigesprochene Milosevic, und zehn Millionen unglückliche Serben stehen, die dank der Ungeschicklichkeit des ICTY nun aus Bosnien und Kroatien mit Milliardenforderungen für Kriegsentschädigung überrollt werden.

Der Autor ist Südosteuropa-Experte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik - Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit