Alternative Lebensformen

Denk Mai alt

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365 Tage hat das Jahr normalerweise. Für die linke Szene in Berlin scheint das nicht zu gelten. Für sie zählt nur ein einziger Tag, der 1. Mai. Was da nicht läuft, läuft nie. Und in diesem Jahr ist die Debatte noch ausufernder als sonst.

Peter Grottian, Politikprofessor an der Freien Universität (FU), plante zusammen mit einem Personenbündnis, Kreuzberg am 1. Mai in eine polizeifreie Polit- und Kulturmeile zu verwandeln, um so erstens den Tag mit Inhalten zu füllen, zweitens zu beweisen, dass es ohne Polizei auch keine Gewalt gebe, und drittens um zur Befriedung des jährlichen Tages des Riot beizutragen.

Eigentlich eine geniale Provokation des rot-roten Senats: Entweder ihr zieht die Polizei ab und es bleibt friedlich, oder wir lassen unser Konzept platzen und es wird krachen wie jedes Jahr. In der vergangenen Woche hat das Bündnis um Grottian sein Projekt jedoch für gescheitert erklärt und die Verantwortung an den Senat zurückgegeben.

Provozieren ließ sich zuvor aber fatalerweise nicht der Staat, sondern die Szene. Nachdem es bereits seit Jahren eine Spaltung zwischen den maoistisch-stalinistischen Gruppen und dem Rest der radikalen Linken gab, soll es in diesem Jahr auch noch eine dritte »revolutionäre« Demo geben, die sich explizit gegen das Projekt von Grottian wendet. Mit Diffamierungen und Lügen wurde Grottian von Teilen der Szene zum Objekt des Hasses gemacht. Der Höhepunkt der Auseinandersetzung war der Anschlag auf sein Auto. (Jungle World, 14/02)

Das Personenbündnis ist dennoch nicht nur an den linken Streitigkeiten gescheitert, sondern auch an der Polizei und am Senat, die eine Zusage für polizeifreie Straßen verweigerten. Man muss Peter Grottian dennoch vorwerfen, völlig naiv gewesen zu sein - sowohl, was seine Einschätzung des Senats anbelangt, als auch der Szene. Dennoch hat er es geschafft, dass so viel wie nie über den politischen Gehalt des 1. Mai diskutiert wird, über Bündnispolitik, Selbstghettoisierung und darüber, was den revolutionären Anspruch autonomer Politik eigentlich ausmacht.

Natürlich war das Personenbündnis auch ein zivilgesellschaftliches Befriedungsprojekt, weshalb für Linksradikale höchstens ein taktisches Verhältnis dazu in Frage kam. Aber es gab keinen Grund, ausgerechnet Grottian zum neuen Hauptfeind zu erklären. Hätte die autonome Szene gelassen ihr Ding durchgezogen und die Aktivitäten des Personenbündnisses als Bereicherung und Aufwertung verstanden, wäre das Befriedungsanliegen ohnehin gescheitert. Befriedung gelang schließlich auch den Grünen und der PDS mit ihrem jährlich organisierten Fest auf dem Mariannenplatz nicht, obwohl es einst mit genau derselben Absicht initiiert wurde.

Das Personenbündnis hat nun mitgeteilt, am 1. Mai Demobeobachter schicken zu wollen, um Polizeiübergriffe zu dokumentieren. Außerdem will es sich an der Mobilisierung gegen die geplante Demo der NPD beteiligen. Ob es dagegen auch Widerspruch geben wird? Eines steht fest: Jene Linken, die jetzt erklären, der jährliche Riot sei an sich eine politische Aktion, werden am 2. Mai wieder behaupten, dass die Polizei die Gewalt provoziert habe und an allem Schuld sei. Insofern wäre also wieder alles beim Alten.

Allerdings nicht ganz. Denn der Streit hat zu einigen neuen Zerwürfnissen und Spaltungen geführt. Man kann das bedauern, weil es die Berliner Szene noch weiter lähmen wird. Andererseits sind Abgrenzungen nun mal das Nebenprodukt von inhaltlichen Klärungsprozessen. Die Debatte hat gerade erst begonnen.