Arbeitslosenbewegung in Argentinien

Es ist noch Suppe da

Mit einer bescheidenen Hilfe für Erwerbslose versucht die argentinische Regierung, dem Druck der Straße zu begegnen.

In den müden, grünen Augen des kleinen Mannes brennt kein Feuer, sein Körper ist gebeugt von Arthritis und 18 Monaten Gefängnis, doch sein Lächeln zeigt die Gewissheit des Sieges. Emilio Alí, Symbolfigur der argentinischen Arbeitslosenbewegung, steht auf der Ladefläche eines klapprigen Lastwagens mitten auf der Nationalstraße 3 der Provinz Buenos Aires, vor einem Fahnenmeer in weiß und himmelblau und mehreren tausend Arbeitslosen verschiedener Gruppierungen. »Ich bin wieder da, der Kampf der Piqueteros geht weiter«, ruft Alí mit ruhiger Stimme seinen Mitstreitern zu, den organisierten Arbeitslosen.

Der 27jährige ist vor knapp zwei Tagen aus dem Gefängnis entlassen worden, wo er festsaß, weil er zusammen mit anderen Piqueteros Supermärkte zur Herausgabe von Nahrungsmitteln genötigt hatte. Nicht nur seine Befreiung, auch einen weiteren Erfolg haben Argentiniens Erwerbslose errungen: die Vorstufe einer allgemeinen Arbeitslosenhilfe. Die Regierung verstand es jedoch auch, mit letzterer Maßnahme einen Teil der Arbeitslosenbewegung zu besänftigen.

»Das war eine sehr positive Woche für uns«, sagte Pablo Moralejas, Sprecher der Federación Tierra y Vivienda (FTV) der Jungle World. Der Land- und Wohnraum-Verband gehört mit der Klassenkämpferischen Strömung der Gewerkschaften (CCC) zu den Organisationen, die die Verteilung der Hilfe an arbeitslose Familienoberhäupter überwachen sollen. »Wir wissen, dass die 150 Pesos pro Monat nicht viel Geld sind«, kommentierte Moralejas die magere Unterstützung von umgerechnet 62 Euro, die nur Familien mit Kindern im Schulalter zugute kommt, »aber das ist ein erster Schritt zu einer regulären Arbeitslosenversicherung.« Die Hilfe dürfte rund 30 Prozent der Familienoberhäupter, die in Armut leben, erreichen.

Bereits im Dezember hatte der peronistische Interimspräsident Rodriguez Sáa die »planes de trabajo« versprochen. Nach vielen Demonstrationen dafür und dagegen segnete die peronistische Regierung Eduardo Duhaldes die Hilfe für rund 1,2 Millionen der 3,2 Millionen »freigesetzten« Arbeitskräfte ab, nicht zuletzt wegen der »großen Sorge« des Präsidenten vor einer »sozialen Explosion«. Der Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Felipe Solá, kam nicht umhin zuzugeben, dass die Armut in Argentinien, wo über die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt, sich verschärft habe.

Die nicht abreißenden Märsche der Piqueteros zu Rathäusern, Märkten und Lebensmittelgeschäften sowie die piquetes, die Straßensperren, haben den Druck auf die Regierenden so sehr erhöht, dass die zunächst auf drei Monate begrenzte Arbeitslosenhilfe um eine Notmaßnahme ergänzt werden soll: die Verteilung von Sojaschnitzeln und einer »Supersuppe« aus Resten des Zentralmarktes der Hauptstadt, ein Plan der Präsidenten-Gattin Hilda Duhalde, die damit versucht, ihr Image der zum Mythos verklärten First Lady Evita Perón anzunähern. Die war fürs sozialpolitische Zuckerbrot zuständig, während ihr Gatte als Präsident autoritär die Peitsche schwang.

Trotz ihrer Dementis wird allgemein angenommen, dass die unter ihrem Spitznamen »Chiche« bekannte Frau Duhaldes im nächsten Jahr selbst für das Präsidentenamt kandidieren wird, wenn ihr Mann wie angekündigt auf eine Kandidatur verzichtet.

Die »Supersuppe«, die Arbeitslosenhilfe und die Freilassung Alís zeigen, dass der Regierung nicht nur die Angst vor erneuten Aufständen zu schaffen macht, sondern vor allem die immer breiter werdende Wählerschicht der Hoffnungslosen. In diesem Zusammenhang ist die plötzliche Freilassung Alís zu sehen, der auf dem besten Weg war, zu einer Symbolfigur zu werden. »Es gab einen politischen Willen, mich festzuhalten«, hatte Alí der Zeitung La Nación gesagt; nun schien es politisch opportun, den Piquetero freizulassen, wie FTV-Anführer Luis D'Elía feststellte: »Leider enthüllt dieser Fall die fehlende Unabhängigkeit der argentinischen Justiz.« Wegen des öffentlichen Drucks stand Gouverneur Solá schon kurz davor, Alí zu begnadigen.

Der Verdacht, dass die peronistische Justizialistische Partei (PJ) des Präsidenten Duhalde einen direkten Draht zur Justiz hat, wurde in der vergangenen Woche durch einen weiteren Fall genährt: die überraschende Festnahme des ehemaligen Wirtschaftsministers Domingo Cavallo, die insbesondere in den unteren Schichten für Freude gesorgt hat. Der Neoliberale ist der maßgebliche Finanzarchitekt des Landes und war nicht nur Initiator der Bindung des Peso an den US-Dollar, sondern auch der Mann, der mit der Sperrung der Sparkonten im Dezember die Unruhen auslöste, die zum Sturz der Regierung Fernando de la Rúas führten.

Festgenommen wurde Cavallo, der aus Angst vor dem Zorn der Bevölkerung kaum noch sein Haus verlassen konnte, jedoch nicht deswegen, sondern im Zusammenhang mit illegalen Waffenexporten nach Kroatien und Ecuador Anfang der neunziger Jahre (Jungle World, 35-36/01) . »Die Verhaftung nimmt Druck von der Regierung, und da sich die öffentliche Meinung wieder der Vergangenheit zuwendet, rückt die Verantwortung der Regierung für die aktuelle Krise in den Hintergrund«, schrieb der konservative Kolumnist Fernando Laborda.

Noch im September hatte das Gericht keine ausreichenden Beweise gegen den damaligen Wirtschaftsminister finden können. Nun hingegen scheint auch eine erneute Vorladung des ehemaligen Präsidenten Carlos Menem, des ewigen Rivalen von Präsident Duhalde, nicht mehr unmöglich. Dass die Regierung keinen Kommentar zur Verhaftung Cavallos abgibt, gilt vielen nur als weiteres Indiz, dass Duhalde vor keiner populistischen Maßnahme zurückschreckt, um den öffentlichen Protest zu besänftigen.

Für die verschiedenen Organisationen der Arbeitslosen ergibt sich nun die Frage, wie sie diese angespannte Situation für sich nutzen können. »Die Menschen merken, dass sich die politische Landschaft verändert«, sagt Moralejas und spielt auf das gemeinsame Motto der Piqueteros, Gewerkschaften und basisdemokratischen Nachbarschaftsversammlungen an: »¡Que se vayan todos! - Alle sollen verschwinden!« Dieser Slogan klinge ihm zu sehr nach »Faschismus«, meint der FTV-Sprecher. »Fast alle sollen verschwinden!« klinge in seinen Ohren besser, schließlich gebe es fähige Politiker in den eigenen Reihen, die für die Wahl 2003 eine neue »Front« bilden könnten - etwa um seinen Chef herum, den Gewerkschaftsfunktionär Víctor de Gennaro. »Seit Evita gab es keinen Politiker des Volkes mehr.« Der mildtätige Schein der vermeintlichen Heilsfigur aus den fünfziger Jahren ist nicht nur der Regierung nützlich, sondern scheint auch auf Arbeitslose noch Faszination auszuüben.

Eine solche Annäherung an Positionen der Regierung wird von anderen Teilen der Protestbewegung heftig kritisiert. Ein Gewerkschaftsführer fragte sich in der Zeitung Página 12, ob »die Integration in den Verteilungsapparat der Arbeitslosenhilfe nicht ein Garantieschein für die Wirtschaftspolitik der Regierung« sei.

Aus der Arbeiterpartei nahe stehenden Gruppen wie dem »Sozialpol« Néstor Vitrolas, die nicht in die Verteilungsstrukturen einbezogen werden sollen, kam noch schärfere Kritik: »Die Piqueteros sind mit diesem Programm nicht einverstanden, die Hilfen beenden die Arbeitslosigkeit nicht«, sagte Vitrola. Für Moralejas kommt solche Kritik von »rechten Trotzkisten«, schließlich gehe der Kampf um Gesundheit, Erziehung und eine allgemeine Arbeitslosenversicherung auch innerhalb der Institutionen weiter. »Obwohl während der Verhandlungen mit der Regierung tagelang die Straßensperren bestehen blieben, haben wir unser Ziel erreicht«, meint der gemäßigte Piquetero.