Der Anschlag von Djerba und der al-Qaida-Prozess in Frankfurt/Main

Das Phantom des Attentats

Im Frankfurter Terror-Prozess und nach dem Anschlag von Djerba ist viel vom Netzwerk al-Qaida die Rede, wenig von den antisemitischen Motiven der Täter.

Die Logik ist bestechend. Ein unscheinbarer Tunesier, der nach Aussagen seiner Familie nicht betete, gerne trank und »keiner Fliege was zu Leide« tat, sprengt sich in seinem mit Gasflaschen beladenen Transporter vor der La Ghriba Synagoge auf Djerba in die Luft. Kurz vorher ruft er in Mühlheim bei Duisburg an. Klarer können die »Hinweise auf Verbindungen zum internationalen Terrornetzwerk al-Qaida«, wie Bundesinnenminister Otto Schily erläutert, kaum sein. Und stärker kann man wohl kaum von der eigentlichen Tat ablenken.

Dass es sich bei der Explosion in Djerba um ein terroristisches Attentat gehandelt hat, ist inzwischen kaum noch umstritten. »Terror gegen Touristen« titelte der Spiegel und entdeckt »bin Ladens deutsches Netzwerk«. Doch je mehr Informationen in Deutschland über den mutmaßlichen Attentäter Nizar Ben Mohammed Nawar ans Tageslicht kommen, desto weniger findet das antisemitische Motiv des Anschlags Beachtung. Sofern es überhaupt erwähnt wurde - Schily tat es als einer der Wenigen - , ging es darum zu begründen, dass der Anschlag nicht speziell gegen deutsche Reisende gerichtet war.

Die Formulierung »Der Täter des mutmaßlichen Anschlags von Djerba« der Nachrichtenredaktion des Deutschlandfunks war bezeichnend für die deutsche Interpretation der Ereignisse. Über den Urheber der Explosion und seine Verbindungen zu einem terroristischen Netzwerk gab es bereits Informationen, bevor überhaupt eingestanden wurde, dass es sich um einen Anschlag handelte, geschweige denn die zugrunde liegende Motivation der Tat zur Kenntnis genommen wurde.

Nun räsonnieren so genannte Terrorexperten über »Schläfer«, Netzwerke und Kommandostrukturen, und das Bundeskriminalamt (BKA) ermittelt fieberhaft, um die richtigen Antworten auf die falschen Fragen zu finden. Ein Blick in das Bekennerschreiben hätte ausgereicht, um die Hintermänner der Tat nicht in afghanischen Höhlenfestungen, sondern in jener antisemitischen Bewegung zu finden, der kürzlich die Synagoge in Marseille zum Opfer fiel und die auch in Deutschland mit vermehrten Übergriffen auf jüdische Einrichtungen auf sich aufmerksam macht.

In dem Schreiben, das der arabischen Zeitung Al Hayat in London zuging und nach Informationen tunesischer und deutscher Ermittler vom 24jährigen Nawar verfasst worden sein soll, heißt es, der Anschlag sei »eine Antwort auf die israelischen Verbrechen an den Söhnen des palästinensischen Volkes im Westjordanland und dem Gaza-Streifen«.

Nawar soll vor seiner Tat einen Deutschen in Mühlheim angerufen haben, der kurzzeitig festgenommen, am Dienstag vergangener Woche aber wieder freigelassen wurde. Inzwischen laufen gegen den Mühlheimer Christian G. und drei andere Personen Ermittlungsverfahren wegen der Bildung einer terroristischen Vereinigung. Bei Hausdurchsuchungen im Raum Duisburg soll die Polizei die Telefonnummer von Ramzi Binalshibh gefunden haben, nach dem international gefahndet wird, da er Kontakt zu den Selbstmordattentätern vom 11. September gehabt haben soll, die in Hamburg lebten. Auch wenn damit noch nichts bewiesen ist, wird die gerne kolportierte Theorie, dass Deutschland nur ein »Ruheplatz« für »Schläfer« sei, immer fragwürdiger. Eher scheint es so, dass Deutschland auch ein Kampfplatz für antisemitische Gruppen ist.

Eine dieser Gruppen steht seit der vorigen Woche im so genannten al-Qaida-Prozess in Frankfurt am Main vor Gericht. Waffen und fast 30 Kilo Chemikalien für den Bau einer Bombe entdeckten die Ermittler der Bundesanwaltschaft, als sie am zweiten Weihnachtstag des Jahres 2000 eine Frankfurter Wohnung durchsuchten. Außerdem fanden sie ein verwackeltes, offensichtlich mit einer Handkamera aufgenommenes Video vom Strasbourger Münster, welches bisher als Beleg dafür diente, dass ein Anschlag auf den Strasbourger Weihnachtsmarkt geplant war.

Vier Mitglieder der mutmaßlichen Terrorgruppe aus Frankfurt-Seckbach wurden sofort verhaftet, der fünfte Angeklagte wurde später in Südspanien gefasst. Alles deute darauf hin, dass es sich um eine Zelle des internationalen Terrornetzwerks al-Qaida handele, verkündeten die Ermittler. Dafür allerdings fehlen die Beweise, genauso wie für die Vermutung, der Strasbourger Weihnachtsmarkt sei Ziel des geplanten Anschlags gewesen.

Die Eröffnung des Prozesses am Frankfurter Oberlandesgericht fand nicht nur unter verschärften Sicherheitsvorkehrungen, sondern vor allem mit gesteigertem medialem Interesse an Ussama bin Laden und der Organisation al-Qaida statt. In letzter Minute erwirkten die Fernsehsender ZDF und RTL am vorvergangenen Montag mit einer Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht (BVG) die Erlaubnis, im Gerichtssaal filmen zu dürfen. Was die Kamera dort aufzeichnete, sagt indes weniger über das internationale Netzwerk als über den antisemitischen Wahn der Seckbacher Gruppe aus.

Bereits 15 Minuten nach dem Prozessbeginn wurde der erste der Angeklagten, Lamine Maroni, des Saales verwiesen, nachdem er das Gericht unablässig beschimpft hatte. Über die fünf Richter der Strafkammer des Oberlandesgerichts sagte er: »Diese Leute sind Juden, die mich reinlegen wollen. Ich brauche sie nicht.« Er zitierte lautstark den Koran und brüllte: »Ihr wollt mich töten« und »Allah ist mächtig«.

Maronis Verhalten verwundert nicht in Anbetracht der Äußerungen des Angeklagten Aeurobi Beandali, der als einziger der Männer vor Gericht aussagen will. Die Gruppe habe nicht den Weihnachtsmarkt in Strasbourg, sondern die dortige Synagoge ins Visier genommen. Mit dem al-Qaida-Netzwerk möchte Beandali nicht in Verbindung gebracht werden.

So könnte sich herausstellen, dass im Frankfurter Prozess nicht über eine Zelle von al-Qaida verhandelt wird, sondern dass in dem tristen Frankfurter Stadtteil ganz eigenständig und unabhängig von Ussama bin Laden ein antisemitischer Mordanschlag ausgeheckt und geplant wurde.

Dafür sprechen die dürftigen Beweise der Bundesanwaltschaft. Als die Fahnder am zweiten Weihnachtstag die besagte Wohnung stürmten, waren die angeblich für den Weihnachtsmarkt bestimmten Bomben noch gar nicht fertig. Auch die vorgebrachten Argumente, dass einer der Angeklagten in Spanien aufgegriffen worden sei, dass es sich bei den Männern um abgelehnte Asylbewerber oder so genannte Illegale gehandelt habe und dass sie Anzüge bei Peek & Cloppenburg erstanden hätten, sind noch keine Belege für die Verbindungen der Angeklagten zum internationalen Terrormilieu.

Je mehr Hinweise für einen geplanten Anschlag auf die Synagoge auftauchen, desto verbissener glaubt auch die Presse an einen ausländischen Auftraggeber. Ein Autor des Spiegel macht vor, wie aus fehlenden Beweisen flugs Tatsachen werden: »Nie sprachen sie dabei von ihrem eigenen Telefon aus, benutzten entweder Mobiltelefone von Dritten oder empfingen Anweisungen aus dem Ausland über öffentliche Fernsprecher.« Oder eben auch nicht.

So bringt die Vorstellung von den »Schläfern« und von Deutschland als heimlichem Stützpunkt auf der ganzen Welt agierender Islamisten paradoxerweise eine Amnestie für Deutschland mit sich, während zugleich hier lebende Islamisten immer öfter für weltweites Aufsehen sorgen.

Bereits nach dem Anschlag vom 11. September 2001 wurde in jeder Talkshow darüber diskutiert, dass das Attentat zu einem nicht unerheblichen Teil in Deutschland geplant wurde. Niemand allerdings kam auf die nahe liegende Idee, die Frage zu stellen, die jedem Neonazi einen Anspruch auf einfühlsame Sozialarbeit verschafft: Welchen Anteil hatte die deutsche Gesellschaft an der Tat?

So zielt auch die aktuelle Reaktion der Bundesregierung, die mehr Personal für das BKA zur »Bekämpfung internationaler islamischer Terrorgruppen« bereit stellen will, auf einen vermeintlichen Feind von außen, dessen antisemitische Motive mehr und mehr im deutschen Mainstream aufgehen. Zum Täter, und weniger zur Tat, wird eine Distanz aufgebaut. Die Tat scheint hinter dem Phantom al-Qaida zu verschwinden.

Die Wut des schreienden Antisemiten in der vergangenen Woche im Frankfurter Gerichtssaal ist so gesehen verständlich. Als Überzeugungstäter bekennt er sich zu dem geplanten Anschlag auf die Synagoge und zu seinen Motiven. Um so schlimmer für ihn, dass davon in Deutschland niemand etwas wissen will.