»Mein Kopf verlor ein Dach«

Forward die Seit!

Reverend Galloway und Marcus Schmickler verfremden Brecht für ihre bizarren Deep House-Nummern.

Wer kennt ihn nicht, den zentralen Initiationsritus eines deutschen Zehnjährigen beim Eintritt in die große, weite Welt der englischen und amerikanischen Popkultur? Man singt Elvis- oder Beatles-Songs mit, ohne zu verstehen, worum es geht. »Amoschockock ahaha, aha, jeeje jäah!« (»All Shook Up«), »Känt Bammi Laahaaf, Känt Bammi Laahaaf!« (»Can't Buy Me Love«), »Hinonino Edukätuh« (»We Don't Need No Education«). Obwohl man natürlich nicht so weltgewandt ist wie der große Nachbarsjunge, ist man als Zehnjähriger ja nicht nur ein kleiner Depp, wenn man sich einen Tennisschläger vor den Bauch hält und mit einer umgedrehten Blumenvase in der Hand durch das elterliche Wohnzimmer tobt.

Denn man hat die Message des Sounds verstanden, ohne wirklich zu wissen, was man da so singt. Doch wo ein Gefühl ist, da ist auch ein Erkenntnisinteresse. Worum mag es in diesem Song wohl gehen? Wonach hören sich die Worte an? Bei »Hound Dog« von Elvis ist es noch einfach, selbst wenn man sich über die Bedeutung des Wortes »Dog« im Unklaren ist, kann »Hound« nur »Hund« bedeuten. Aber wenn Elvis singt: »I wonder if you're lonesome tonight«? Geht es vielleicht darum, dass Elvis irgendwas mit »erleiden« sagen will?

Das sind komplizierte Verhältnisse, und selbst wenn man es als Kind noch nicht weiß, so macht man in diesen Momenten zum ersten Mal Bekanntschaft mit einer recht abgelegenen Form dessen, was man später im Deutschunterricht als Verfremdungseffekt in der Brechtschen Theatertheorie kennenlernen wird. Der berühmte V-Effekt also. Weil die ganze Welt so mächtig entfremdet ist, wegen dem Kapitalismus und so, darf das Kunstwerk sie nicht eins zu eins nachstellen, sondern muss kleine V-Effekte einbauen - auf dass die Verhältnisse sich entschleiern. Damit jeder versteht, wie der Hase wirklich läuft, und irgendwann das ganze ungerechte System in die Tonne gekloppt wird.

Hanns Eisler war derjenige, der das eine oder andere Gedicht Brechts in die Liedform übertrug und gleichzeitig auf unerreichte Art und Weise immer wieder V-Effekte in seine Kompositionen einfügte. Beim »Solidaritätslied« muss man zwar sehr genau hinhören, wenn man die Anspielungen auf das Barock heraushören will, es gibt sie aber.

Nun hat dieses Konzept seit seinem Entstehen schon die unterschiedlichsten Musiker eingeladen, sich darauf ihren Reim zu machen. Nicht zuletzt jene Szene, die sich in den Siebzigern der freien Improvisation widmete. Peter Brötzmann etwa spielte damals eine erschütternd militante Single mit dem »Einheitsfrontlied« ein. Heiner Goebbels und Alfred Harth machten die Platte »Vier Fäuste für Hanns Eisler«, auf der sich Titel befanden wie »Sieg im Volkslied« und auch eine wunderbare Free-Jazz-Meets-Wirtshaus-Bänkellied-Version des »Solidaritätslieds«. Das ist lange her, und zwischenzeitlich glaubte man, solche historischen Referenzen nicht mehr nötig zu haben.

Doch nun ist bei dem kleinen Frankfurter Label Whatness eine Platte herausgekommen, die die Pflege des Eislerschen Erbes und natürlich auch die des großen Eisler-Sängers Ernst Busch auf eine ganz neue Ebene hievt. »Mein Kopf verlor ein Dach« heißt sie und ist von dem Kölner Produzenten Marcus Schmickler zusammen mit dem Frankfurter Tausendsassa Stephen Galloway eingespielt worden. Marc Ushemi und Reverend Galloway nennen sie sich für ihr Projekt, und - man glaubt es kaum - sie interpetieren das »Solidaritätslied« auf der Basis von Deep House ganz neu. Es hört sich jedoch an, als habe das Stück 70 Jahre auf diesen Augenblick gewartet. »Voh! Voh! Voh!«, singt Galloway, und ein fetter Housebeat trägt einen weiter zu »Aha! Yeaheahaheah! Vorwärts und nicht vergessen!«

Nun ist das nicht einfach nur cool und auch nicht einfach nur gut gemacht. Das interessiert auch gar nicht. Es geht eher darum, mit genau jener Art von V-Effekt zu arbeiten, wie es im Umgang mit dem Werk von Brecht und seinem Umfeld jedem Künstler ein Herzensanliegen sein sollte.

Stephen Galloway kommt aus den USA. Er interessiert sich für alles, und egal, was er macht, es gelingt. Als Kind organisierte er Modenschauen, nach der Schule bekam er ein Stipendium, um Tanz zu studieren, und so landete er schließlich bei William Forsyths Frankfurt Ballet. Dort begann er sich - neben dem Tanz - um die Kostüme des Ensembles zu kümmern und kam in Kontakt mit Issey Miyake, der Galloway fragte, ob er nicht Art Director seiner Modenschauen werden wolle. So wurden auch die Rolling Stones auf ihn aufmerksam, und er wurde zum Creative Director ihrer Videos und Konzerte. Im vergangenen Jahr nahm er außerdem eine R'n'B-Platte für 3P auf, das Label von Moses Pelham.

Galloway nähert sich den Texten der Lieder über den Sound der Sprache. Und wenn er singt »What's on my plate? Die Solidaritate! Oh, I'm so hungry!«, ist das eine Art von nachempfundener Paraphrase und interlingualer Transformation, die die Sehnsucht, die dem musikalischen Genre House innewohnt, mit der ursprünglichen Bedeutung des Stücks verschmelzen lässt. Da bleibt einem vor Verzückung die Luft weg. Galloway hört sich tatsächlich an wie ein Reverend, der seiner Gemeinde predigt. Auch wenn man nicht so genau weiß, wohin die Reise eigentlich gehen soll.

Schließlich: Was mögen Zeilen wie »Land! Sei bereit, vorwärts die Zeit! Forward die Seit!«, »Farmers and Workers! Hold 'em Up High To The Sky!«, »Jeder weiß, nur auf die Minuten kommt es immer an« oder »Zahnlos fletschende Zwings, wie wir wissen ist es nur ein Traum« zu bedeuten haben? Sind es tatächlich Busch/Brecht/Eisler-Varianten? Oder ganz was anderes? Aber ist das wichtig? Diese Fragen kann man getrost zukünftigen Proseminaristen zur Beantwortung überlassen.

Galloway und Schmickler verwandeln das Busch/Brecht/Eislersche Sendungsbewusstsein in einen für unsere Zeit völlig adäquaten Sound der Sehnsucht und der Verwirrung. Und vielleicht sind diese Art von Deep House-Reverends die einzigen Prediger, denen man noch Glauben schenken mag. Wenn sich das, was die DDR einmal das humanistische Erbe nannte, irgendwo aufhält, dann hier.

Marc Ushemi/Reverend Galloway: »Mein Kopf verlor ein Dach« (Whatness) www.whatness.de