Rezeption des Nahost-Konflikts in Frankreich

So fern, so nah der Osten

Frankreich sieht den Nahost-Konflikt im Licht seiner Vergangenheit als Kolonialmacht.

Rund zwei Jahre nach dem Ende des Naziterrors, im Sommer 1947, brach die »Exodus« mit 4 500 Displaced Persons an Bord von Südfrankreich nach Palästina auf. Damit begann eine Odyssee, die ausgerechnet in Deutschland endete, von wo die Überlebenden des Holocaust gerettet worden waren. All das geschah auf Anordnung der Briten, die das Mandat über Palästina hatten und die die »Exodus« und ihre Passagiere dirigierten. Ihr Vorgehen löste damals Proteste in der ganzen Welt aus.

So auch in Frankreich. Große Solidaritätsdemonstrationen für die Passagiere fanden statt, organisiert von der Kommunistischen Partei, der sozialistischen SFIO und dem Gewerkschaftsbund CGT. Die »Exodus« wurde in Frankreich zum zentralen politischen Debattenthema des Sommers 1947. Die gesamte französische Linke engagierte sich dafür, dass die jüdischen Emigranten nach Palästina einreisen durften.

Die politische Rechte hielt sich bedeckt. Knapp zehn Jahre später, im Herbst 1956, war es hingegen vor allem die Rechte und die extreme Rechte, die dem Staat Israel applaudierte. Denn 1956 war Israel eine Regionalmacht, die im Oktober mit dem Angriff auf Ägypten die britisch-französisch-israelische Intervention gegen den Staat von Gamal Abdul-Nasser eröffnete, nachdem dieser den Suezkanal nationalisiert hatte. Die Anhänger des Kolonialstaats in Frankreich waren begeistert. Ein Freiwilliger der Suezexpedition im November 1956, ein gewisser Jean-Marie Le Pen, wird später seinen Biografen erzählen, wie er von einer Fraternisierung mit den 15 Kilometer entfernt liegenden israelischen Linien geträumt habe.

Jean-Marie Le Pen, der später an der Spitze des neofaschistischen Front National (FN) stehen wird, kämpfte zu dieser Zeit als Freiwilliger im Kolonialkrieg in Algerien, wo er nachweislich an Folterungen beteiligt war. Zwar war der Rechtsextreme Le Pen auch damals nicht eben judenfreundlich eingestellt, doch die Faszination für das israelische Militär, das in der Algerien-Politik mit dem französischen kooperierte, war stärker. Und schließlich, so räsonnierte Le Pen, könne die Einwanderung nach Israel dazu beitragen, dass alle Juden sich von den europäischen Nationen trennen.

Noch Anfang 1987 verglichen Vertreter des World Jewish Congress in New York wie Jack Torcyner den französischen Politiker - den sie zum Dinner geladen hatten, um ihm ideologisch auf den Zahn zu fühlen - mit einem israelischen Militär und Politiker: Ariel Sharon. Die Tiraden des Franzosen gegen die muslimische Einwanderung im Land fanden in Teilen der israelischen Rechten Zuspruch. Doch im September 1987 hatte Le Pen sein antisemitisches Coming-out. Im Fernsehen antwortete er auf die Frage, wie er zu den Thesen der französischen Geschichtsrevisionisten stehe: »Sechs Millionen Tote? Wie, ja muss ich denn daran glauben?« Am Ende erklärte er die angeblich offene Fragestellung zum point de détail (Nebensache) der Geschichte des Zweiten Weltkriegs.

Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte sich mit der so genannten »Detail-Affäre« auf der politischen Bühne Frankreichs ein offener Antisemitismus Bahn gebrochen. Die Empörung, die auf diesen Tabubruch folgte, betrachtete Le Pen als Produkt eines jüdischen Komplotts, sich selbst sah er als Opfer. Dabei habe er doch bei den »interessierten Kreisen« zum Jahresanfang einen guten Eindruck hinterlassen. Zutiefst von einer weltweiten jüdischen Verschwörung überzeugt, glaubte er, mit dem Dinner in New York am Tisch der »Strippenzieher« eine Art Stillhaltepakt geschlossen zu haben.

In der Nacht des 8. Mai 1990 wurde der jüdische Friedhof im südfranzösischen Carpentras geschändet. Gleichzeitig trat der rechtsextreme Politiker im Fernsehen auf. Am 12. Mai 1990 demonstrierten gut 200 000 Menschen in Paris gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus unter dem Motto »Le Pen, die Worte - Carpentras, die Tat.« Die Mobilisierung erfasste sämtliche Parteien, mit Ausnahme des Front National.

Zwölf Jahre später hatte sich das Bild erneut drastisch gewandelt. Eine nicht abreißende Serie antijüdischer Anschläge hat hat im Land seit dem Herbst 2000 stattgefunden. Seit dem Beginn der israelischen Militäroffensive Ende März dieses Jahres hat eine neue Aggressionswelle eingesetzt: Zwischen dem 29. März und dem 17. April wurden insgesamt 395 Straftaten gegen Juden und Jüdinnen registriert.

Doch zum Antisemitismus des frühen 20. Jahrhunderts bestehen bedeutende Unterschiede. Anders als im Deutschland der dreißiger Jahre äußert sich nicht die Mehrheit der Gesellschaft antisemitisch. Der Antisemitismus einer Minderheit, eines Teils der maghrebinischen Einwandererjugend, richtet sich gegen die andere Minorität, wird aber mitnichten von einem Konsens innerhalb der Mehrheitsgesellschaft getragen. Diese nimmt die Taten überwiegend mit Entsetzen zur Kenntnis, die Medien verurteilen sie entschieden. Während im Nachbarstaat Deutschland die ideologische Rezeption des Nahost-Krieges einem sekundären Antisemitismus sowie dem Bedürfnis nach »Normalisierung« zuarbeitet, existiert ein solches Bedürfnis in Frankreich nicht.

Die Projektionsfläche für den Konflikt ist in Frankreich eine ganz andere und leistet eher einer Selbstkritik der französischen Nation Vorschub. Insbesondere die linke französische Öffentlichkeit sieht den Feldzug unter Ariel Sharons Führung überwiegend im Licht der eigenen Vergangenheit des Landes als Kolonialmacht in Nordafrika und im Nahen Osten. Auch Sharon zog in einem Interview mit dem konservativen L'Express diese Parallele: »Wir sind (in Palästina) wie Sie in Algerien, es gibt nur einen Unterschied: Sie sind gegangen, wir bleiben.«

Wie reagiert nun die jüdische Bevölkerung in Frankreich, wo gleichzeitig die mit Abstand größte arabischstämmige und die größte jüdische Community in ganz Europa leben? Am ersten Aprilwochenende fanden gleich drei größere Demonstrationen in Paris statt, die auf den Nahostkonflikt reagierten. Am 6. April demonstrierte die gesamte Linke diesseits der Sozialdemokratie mit 30 000 bis 40 000 Personen für »die Rechte der palästinensischen Bevölkerung«.

Auch an jüdischen Teilnehmern mangelte es nicht. Die femmes en noir sind ein gemischtes, pazifistisches Kollektiv, dessen Vorbild die jüdisch-arabischen »Frauen in schwarz« von Jerusalem sind. Die UJFP (Jüdische Union für den Frieden) ist eher linksalternativ bis linksradikal. Und die CAPJPO (Koordination der Appelle für einen gerechten Frieden in Nahost) mit 6 000 Mitgliedern hat jüdische und arabischstämmige GründerInnen.

Am 7. April wiederum fanden zwei von der jüdischen Community initiierte Demonstrationen statt. Auf der Place de la République hatte der Präsident des Dachverbands CRIF (Repräsentativer Rat der jüdischen Organisationen Frankreichs) eine Großdemonstration angemeldet. Der Aufruf richtete sich nahezu exklusiv an die jüdische Community. In ihm wurde der Protest gegen die antisemitischen Anschläge in Frankreich mit dem Anliegen vermischt, die israelische Regierung zu unterstützen.

Doch die Hälfte der CRIF-Führung opponierte gegen die Iniative, die ihr Präsident Roger Cukierman allein ergriffen hatte. Cukierman vertritt den ausgeprägt rechten Flügel der kommunitären Institutionen und hat eine enge Anbindung an die politische Klasse in Israel, vor allem zum rechten Likud.

Die Opponenten wünschten lieber eine universalistische, »republikanische« Demonstration gegen die Angriffe in Frankreich. Daher zog sich ein Teil des CRIF aus der Demovorbereitung zurück, die regionale Sektion in Lyon organisierte eine eigene Kundgebung mit anderer Ausrichtung. Dennoch kamen gut 60 000 Teilnehmer zu der Pariser Demonstration, aus durchaus unterschiedlichen Motiven, vor allem aber wegen der Angst angesichts der derzeitigen Welle antijüdischer Aggressionen. Eine konkurrierende Demonstration des pazifistischen Flügels der Community, rund um die Plattform Shalom acharav (Frieden jetzt), in der Nähe der Bastille vereinigte ebenfalls mehrere tausend Personen.

Dabei kam es zu gewalttätigen Angriffen von Extremistengruppen wie des paramilitärischen Betar, der mit dem Hardlinerflügel im Likoud de France, dem französischen Ableger des Likud, verbunden ist, auf die pazifistischen jüdischen Demonstranten. Mehrere hundert Extremisten griffen auch Passanten wegen ihres »arabischen« Aussehens an, stachen einen französischen Polizisten nieder und verletzten einen spanischen Kameramann schwer. Der Betar hat in den letzten Wochen mehrfach Teilnehmer von Diskussionsveranstaltungen zu Palästina krankenhausreif geprügelt und Geschäfte unbeteiligter maghrebinischer Händler beschmiert.

Der Konflikt im Nahen Osten ist vor allem ein politischer und kein »ethnischer«. Es geht im Kern um materielle Fragen wie die Trinkwasserverteilung, die Bodenenteignung und die politische Souveränität. Ganz unterschiedliche Kräfte arbeiten daran, daraus einen Konflikt um Abstammung und Religion zu machen. Dennoch glaubt sowohl die Mehrheit der maghrebinischen Einwanderer als auch die der französischen Juden an die Möglichkeit des Zusammenlebens von Menschen verschiedener Herkunft. Derzeit freilich ist es einer starken Belastungsprobe ausgesetzt.