»Die Schatten der Globalisierung« von Joseph Stiglitz

Den Sturm reformieren

Joseph Stiglitz beriet Clinton, leitete die Weltbank und erklärt in »Die Schatten der Globalisierung«, warum die Politik des IWF versagt hat.

Geheimniskrämerisch, undemokratisch, marktwirtschaftlich fundamentalistisch - das alles wirft Joseph Stiglitz in seinem neuen Buch »Die Schatten der Globalisierung« dem Internationalen Währungsfonds vor. Neu ist diese Kritik nicht. In linken Kreisen, zumal in globalisierungskritischen, gehört sie seit langem zum Standardrepertoire.

Pikant ist das vernichtende Urteil dennoch. Denn Stiglitz gehört zu den wenigen, die den IWF von innen kennen. Von 1993 bis 1997 beriet er die Regierung Bill Clintons in Wirtschaftsfragen. Anschließend war er Chefökonom der Weltbank. Nach ihrer eigenen Definition soll sie das Wachstum in den Entwicklungsländern fördern und so die Armut verringern.

In beiden Ämtern arbeitete Stiglitz eng mit Experten des IWF zusammen und geriet immer wieder mit ihnen in Konflikt. Zu unterschiedlich waren die Auffassungen darüber, welche politischen und ökonomischen Maßnahmen für die zu fördernden Länder gut seien. Stiglitz konnte seine Positionen nicht durchsetzen. Deshalb trat er 1999 als Chefvolkswirt der Weltbank zurück. 2001 erhielt er für seine »Analyse unvollkommener Märkte« den Nobelpreis für Wirtschaft. Heute lehrt er an der Columbia University in New York.

Er ist kein Gegner der Globalisierung. Im Gegenteil. Als Ökonom ist er überzeugt, dass sie dazu beitragen kann, weltweit für wirtschaftliche Stabilität zu sorgen und allen Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen - unter der Voraussetzung, dass der Wohlstand gerecht verteilt wird. Wird er aber nicht. Nach Studien der Weltbank stieg die Zahl derjenigen, die in Armut leben, in den neunziger Jahren in der ganzen Welt um fast 100 Millionen. »Um zu verstehen, was schief gelaufen ist«, schreibt Stiglitz, »muss man die drei wichtigsten Institutionen betrachten, die die Globalisierung lenken: den Internationalen Währungsfonds, die Weltbank und die Welthandelsorganisation.«

Viele Menschen in Indonesien waren verbittert, als der IWF dem Land einen Milliardenkredit gewährte mit der Auflage, dass mit dem Großteil des Geldes Forderungen privater Kreditgeber aus den Industrieländern zu bedienen seien. Gleichzeitig wurden den Armen Brennstoff- und Nahrungsmittelsubventionen gestrichen. »In mehreren Krisenländern«, schreibt Stiglitz, »bezeichnen gewöhnliche Menschen, aber auch Regierungsvertreter und Geschäftsleute den wirtschaftlichen und sozialen Sturm, der über ihre Nationen hinwegfegte, schlicht als 'den IWF' - so wie man 'die Pest' oder 'die Weltwirtschaftskrise' sagen würde.«

In seinem Buch schreibt er viel und in einem Ton der Enttäuschung über die Ungerechtigkeiten, die der IWF im vergangenen Jahrzehnt zementiert hat. Das macht die Lektüre schwer, zumal eine systematische Struktur nicht erkennbar ist. Wer das trotzdem aushält, wird belohnt. Denn der Autor übt seine Kritik nicht auf wissenschaftlichem Niveau, sondern macht sie an Einzelbeispielen aus seiner Praxis begreifbar. Vor allem verdeutlicht er Macht- und Denkstrukturen, die den Prozess der Globalisierung steuern.

Vor allem der IWF pries in den neunziger Jahren drei wirtschaftspolitische Leitlinien als den allein selig machenden Weg zu Wachstum und Entwicklung: weniger Staatsausgaben, Privatisierung und Marktöffnung. Die Kritik an diesem so genannten Washington Consensus durchzieht das Buch wie ein roter Faden. Jenes neoliberale Dogma wurde nach Ansicht von Stiglitz vom US-Finanzministerium durchgesetzt, das für die USA die Stimmrechte im IWF wahrnimmt. Mit dem Vetorecht, das die USA wegen ihrer hohen Zahlungen an den Fonds als einzige Nation besitzen, können sie alle Entscheidungen blockieren und so ihre Interessen durchsetzen.

Stiglitz ist der Meinung, dass die Leitlinien durchaus nützlich sind, sofern sie sachgerecht befolgt werden. So habe sich gezeigt, dass Länder nicht dauerhaft über ihre Verhältnisse leben können, fiskalische Disziplin also unerlässlich sei. Aber ihn stört, dass so »letztlich eine kleine Minderheit auf Kosten der großen Mehrheit, die Wohlhabenden auf Kosten der Bedürftigen, begünstigt« werde. »In vielen Fällen haben Handelsinteressen die Sorgen um Umwelt, Demokratie, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit in den Hintergrund gedrängt.« Anders als der IWF sieht Stiglitz wirtschaftspolitische Maßnahmen immer in einem umfassenden, sozialen Kontext. Und obwohl die Wirtschaftstheorie bereits nützliche Alternativen parat hatte, empfahl der IWF weiterhin seine alten Standards.

Wegen seiner einseitigen ideologischen Ausrichtung verstehe der Währungsfonds die Rolle des Staates nicht. Stiglitz findet es richtig, dass der Staat in der Krise kräftig investiert und eine expansive Geldpolitik betreibt, um die Zinsen niedrig zu halten und so private Investitionen und Wachstum zu stimulieren. Nichts anderes tut auch Alan Greenspan, der Chef der US-Notenbank. Doch der IWF verordne allzu häufig das Gegenteil. Die ostasiatischen Länder etwa erwirtschafteten vor ihrer Krise Ende der neunziger Jahre Haushaltsüberschüsse, und sie hatten auch keine Inflationsprobleme. Für jene Staaten war die rigorose Senkung der Staatsausgaben kein geeignetes Mittel, um die Ostasienkrise schnell zu bewältigen. Thailand hielt sich an die Empfehlungen des IWF. Dennoch lag sein Bruttoinlandsprodukt drei Jahre nach dem Ausbruch der Krise um 2,3 Prozent unter dem Niveau vor der Krise.

Stiglitz glaubt an ein komplementäres und partnerschaftliches Verhältnis von Markt und Staat. Das lässt sich seiner Ansicht nach auch mit der ökonomischen Theorie belegen: »Die Märkte stehen zwar im Zentrum der Volkswirtschaft, aber der Staat spielt eine wichtige, wenn auch begrenzte Rolle. Der Staat kann nicht jedes Marktversagen beheben, und Märkte können nicht von sich aus jedes soziale Problem lösen. Ungleichheit, Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung sind Probleme, bei deren Lösung dem Staat eine wichtige Rolle zufällt.«

Ausführlich beschäftigt sich der Ökonom mit der Forderung des IWF, dass Entwicklungsländer ihre Waren- und Finanzmärkte für ausländische Investoren öffnen sollen. Dabei zieht er den historischen Vergleich mit den Industrieländern. Die meisten bauten ihre Wirtschaft auf, indem sie selektiv und umsichtig einige ihrer Wirtschaftszweige so lange abschirmten, bis sie stark genug waren, um im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Die westeuropäischen Länder zum Beispiel regulierten ihre Kapitalströme bis in die siebziger Jahre. Dieses Recht billigt Stiglitz auch den Entwicklungsländern zu. Zumal die Industrieländer noch immer zu protektionistischen Maßnahmen greifen.

Im Gegensatz zur harten Privatisierung, für die sich der IWF stark macht, setzt Stiglitz auf eine sanfte Variante. Um einen funktionsfähigen Wettbewerb zu schaffen, plädiert er statt einer Schocktherapie für eine bedächtige Einführung von Marktpreisen. Gleichzeitig sollten die grundlegenden Institutionen einer Marktwirtschaft aufgebaut werden: gesunde Banken, die Kredite an Firmen vergeben, ein Rechtssystem, das die Einhaltung von Verträgen und geordnete Konkursverfahren regelt, eine Banken- und Börsenaufsicht, ein funktionsfähiges Steuersystem. Vor allem aber ein soziales Sicherungsnetz, das denjenigen, die ihren Job verlieren, weiterhin ein menschenwürdiges Dasein ermöglicht.

Das alles sei zum Beispiel in Russland viel zu wenig bedacht worden. Die IWF-Kredite, die das Land im Juli 1998 erhielt, seien schädlich gewesen, glaubt Stiglitz. Sie brachten »breite Bevölkerungsschichten an den Bettelstab und stützten einen hohen Wechselkurs, der Gift für die Wirtschaft war. Das alles hält bis heute Gruppen an der Macht, deren Korruptheit offen zu Tage tritt.«

Die Fehler, die der IWF bei der Bewältigung der Ostasienkrise machte, gestand die Institution mittlerweile größtenteils ein. Das führte aber noch nicht zum Umdenken. Erst nach den schmerzlichen Erfahrungen in Russland, Brasilien und Argentinien erklärten der IWF und die G 7-Staaten einhellig, dass in Zukunft Konkursmöglichkeiten und Moratorien, also das kurzfristige Aussetzen des Schuldendienstes, und sogar temporäre Kapitalverkehrskontrollen in kritischen Zeiten eine größere Rolle spielen sollen.

Wie heilsam zeitweilige Kapitalverkehrskontrollen sein können, zeigt Stiglitz am Fall Malaysia. Statt dem IWF-Muster zu folgen, das zur Behebung der Krise höhere Zinsen und weniger Staatsausgaben vorsah, belegte das Land ein Jahr lang grenzüberschreitende Kapitalflüsse mit einer Steuer. »Während dieser Zeit sanierte Malaysia seine Banken und Unternehmen und widerlegte damit ein weiteres Mal seine Kritiker, die gesagt hatten, dass Staaten erst unter der heilsamen, von offenen Kapitalmärkten ausgeübten Disziplin ernsthafte Schritte zur Strukturbereinigung ergreifen würden«, schreibt Stiglitz. Es sei kein Zufall, dass die beiden großen Entwicklungsländer, die von den Auswirkungen der Ostasienkrise verschont blieben - Indien und China - Kapitalverkehrskontrollen hatten.

Er ist überzeugt, dass diese alternativen Strategien den Menschen in den Krisenregionen weniger Lasten auferlegt hätten, die Gläubiger wären sie jedoch teuer zu stehen gekommen. Genau hier liege das eigentliche Problem. Die politischen Empfehlungen des IWF seien geprägt von den Finanz- und Handelsinteressen der USA. So waren die Milliardenkredite an Russland eine Rettungsaktion ebenso für die westlichen Banken wie für Russland selbst.

Damit sich diese Interessen nicht hinter verschlossenen Türen durchsetzen, verlangt Stiglitz eine demokratische Kontrolle des IWF und der anderen internationalen Wirtschaftsorganisationen. Und er fordert ein Mitbestimmungsrecht für jene, die von den Maßnahmen betroffen sind. Geheimniskrämerei, undemokratische Entscheidungen und marktwirtschaftlicher Fundamentalismus wären dann nicht mehr möglich.

Wie freundlich könnte doch der Sturm sein.

Joseph Stiglitz: Die Schatten der Globalisierung. 304 S., Siedler Verlag, Berlin 2002, 19,90 Euro