Gerd Conradts Dokumentation »Starbuck« über Holger Meins

Der Sprung

In der sehenswerten Dokumentation »Starbuck« fragt Gerd Conradt danach, wer Holger Meins war.

Im Oktober des letzten Jahres zeigte Gerd Conradt seinen Holger-Meins-Film »Starbuck« auf dem Leipziger Dokumentarfilmfest zum ersten Mal öffentlich. Es war die Zeit unmittelbar nach dem 11. September, jeden Tag gab es neue Milzbrandmeldungen, selbst in einer Toilette des Kinokomplexes wurde weißes Pulver entdeckt, das sich aber später als harmlos entpuppte. Seltsam aufgeputscht erwartete man täglich neue Schreckensmeldungen und diskutierte in der Nacht, ob die Urheber der Anthrax-Attacken womöglich noch menschenverachtender seien als die, die die Flugzeuge ins WTC geflogen hatten.

Der große Kinosaal, in dem »Starbuck« seine Premiere hatte, war überfüllt. Viele meinten, es gäbe Verbindungslinien zwischen den zeitgenössischen Selbstmordattentätern und den RAF-Kämpfern der siebziger Jahre. Bei beiden stand ja »Terrorist« drüber, und wer der Zahlenmystik nahe stand, konnte sogar damit auftrumpfen, dass im 11.9. auch der 9.11. mit drin ist; der Tag also, an dem Holger Meins 1974 starb.

Zwei Bilder von Holger Meins wurden zu Ikonen der siebziger Jahre. Das Bild von seiner Festnahme, auf dem zu sehen ist, wie er abgemagert in Unterhosen aus diesem von der Polizei umstellten Haus in Frankfurt herauskommt und plötzlich anfängt zu schreien wie ein Tier; und das andere, das zeigt, wie er nackt aufgebahrt ist und wie grotesk er wirkt, nicht nur wegen der Kameraperspektive, die den Körper des hageren, großen Mannes so klein machte. Wie er da so liegt, erinnert er an Jesus oder Ché Guevara. Am Bauch sieht man noch die Nähte, denn die Innereien mussten herausgenommen und untersucht werden. Holger Meins wurde 33 - wie Jesus. Seine Leiche sehe aus wie ein Alien, sagt Rainer Langhans im Film. Darin liege vielleicht auch Hoffnung. Die offensichtliche Hüllenhaftigkeit des Körpers deute vielleicht auch dahin, dass die Seele schon ganz woanders sei.

Dieses Bild, eine klassische Vanitas-Darstellung, wurde von Sympathisanten mit dem Zusatz »Dieser Mann erpresst den Staat« als Poster gedruckt. Anders als mit dem Bild des toten Ché Guevara ließ sich damit keine Reklame für den bewaffneten Kampf machen. Irgendwann zuvor hatte Peter Lilienthal, Dozent an der Deutschen Film- und Fernsehakademie, gesagt, dass Holger Meins immer seinen Körper und seine Gesundheit vernachlässigt habe, sodass er ihn ermahnt habe: »Es gibt nichts, was rechtfertigt, dass du nicht frühstückst.«

Irgendwie hat man manchmal den Eindruck, dass die RAFler - darin noch krasser als etwa die Bewegung 2. Juni - die Kaputtheit der Gesellschaft in ihren Körpern wiederholen wollten, dass sie meinten, eine Sache werde dadurch wahrer, dass man für sie stirbt und dass diesem Tod umso mehr (auch erpresserische) Kraft zugetraut wird, wenn Eigen- und Fremdverschulden sich irgendwie die Waage halten - wie bei Jesus.

Leider wird der sozusagen spirituelle, bewusstseinsverändernde Aspekt in der Geschichte von RAF, 2. Juni usw. auch in diesem Film etwas vernachlässigt. Es gibt nur eine kurze Passage, in der der ehemalige Haschrebell Michael Zöllner Ende der Sechziger über Drogen spricht und problematisiert, dass sie einem den Zustand einer unentfremdeten Gesellschaft vorgaukeln, die doch erst erkämpft werden müsse. Es wäre interessant, darüber nachzudenken, was die klassische spirituelle Disziplin des radikalen Fastens in Isolationshaft für die Wirklichkeitswahrnehmung bedeutete. Wahrscheinlich steigert man sich damit noch mehr in den Fanatismus der totalen Gegnerschaft »Schwein oder Mensch«.

»Starbuck« - der Deckname von Holger Meins geht auf den Steuermann in Herman Melvilles »Moby Dick« zurück - entwirft eine Biografie mit vielen Lücken und Leerstellen. Was Holger Meins nun genau in der RAF gemacht hatte, welche Funktion er da hatte, wie das RAF-Leben so aussah, bleibt seltsam unklar. Umso mehr geht es, wie soll man sagen, um den sehr protestantischen Menschen Holger Meins. Eine sensible Künstlernatur mit starken Stimmungsschwankungen.

Jemand, der aus gesicherten Verhältnissen kam, sich ab dem Alter von 13 Jahren bei den Pfadfindern engagierte, schon bald Gruppenführer wurde, mit seinen Pfadfinderkollegen Bibelarbeit machte, nach Gott suchte, viel Existenzialismus las, malte und fotografierte und dann zum ersten Jahrgang der Deutschen Film- und Fernsehakademie gehörte. Er lebte dann in der »K1«. Alles, was man tat, tat man in Gruppen. Mit anderen - u.a. einer surrealistischen Aktionsgruppe aus Frankreich, deren Mitglieder sich immer aus Protest nackt auszuziehen pflegten - verwandelte man das Experimentalfilmfest in Knokke in einen Protest gegen den Vietnamkrieg und skandierte immer wieder, gegen die Kunst gerichtet, »Réalité!«

Das sind klasse Dokumentaraufnahmen, die der Filmemacher und Studienkollege Harun Farocki gewohnt klug und charmant kommentiert. Dazu gibt's Bekanntes, das immer wieder interessant ist zu sehen: Ulrike Meinhof, die sich im Fernsehen beschwert, keinen Zugang zu den Medien zu haben, die ein bis zwei Stunden für sich und ihre Genossen im Fernsehen fordert, Bilder von der berühmten Mahler-Solidaritätsschlacht am Tegeler Weg, die Beerdigung von Holger Meins schließlich mit Dutschkes heiserem »Holger, der Kampf geht weiter« usw.

Beeindruckend sind vor allem die Passagen, in denen Wilhelm Meins, der Vater, über die Zeit von der Festnahme bis zum Tod spricht, der umso sinnloser wurde, je mehr versucht wurde, ihn zu instrumentalisieren. Wie er seinen Sohn nach der Festnahme besuchte, und der war grün und blau geschlagen bis zum Hals. Oder die Umstände, die nahe legen, dass Meins' Tod staatlicherseits in Kauf genommen wurde. Oder die Tatsache, dass der Vater dann später eine Betonplatte ins Grab seines Sohnes einziehen ließ, um Grabschändungen unmöglich zu machen.

In Margarethe von Trottas Ulrike-Meinhof-Film dominierte das unangenehm pathetische Geigenspiel der RAF-Mitbegründerin. Wolfgang Grams wurde als sensibler Gitarrist dargestellt. Baader war Dandy und schien sich selber eine Kunstfigur gewesen zu sein.

Bei »Starbuck« denkt man manchmal, Gerd Conradt wolle den Terroristen für die Kunstgeschichte retten, ihm das - im zeitlichen Abstand - immer fremder Werdende nehmen. Die meisten Interviews mit den Zeitzeugen wurden in einer Fabriketage aufgenommen, in der viele Bilder hängen, die Meins gemalt hat. Die Zeitzeugen interpretieren die Bilder wie Kunstlehrer. Es gibt auch viele Ausschnitte aus den Studentenfilmen, die Meins gemacht hat. Die seltsamste Passage ist bei einer Pressekonferenz mit Wolfgang Petersen gedreht. Befragt nach Meins, erzählt der Regisseur lachend - wie man als Erwachsener über Dummejungenstreiche spricht - von der antiautoritären Revolte an der Filmakademie. »Sie werden es nicht glauben, auch Holger Meins war da.« Haha. »It was a wonderful time.«

Nach dem Film fand in Leipzig eine Diskussion statt, an deren Ende sich die Tochter von Gerd Conradt meldete. Nun erst verstehe sie, was ihren Vater so lange umgetrieben habe, sagte sie und beglückwünschte ihren Vater zu dem Film, der sein bester sei. Sie hoffe, dass er nun mit Holger Meins »durch« sei. Und man wunderte sich darüber, dass sie das so öffentlich sagte und bekam eine Ahnung davon, wie groß die Macht der Toten über die Überlebenden ist.

Von 1966 bis 1968 hat Gerd Conradt mit Holger Meins zusammen an der deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin studiert. Beide waren miteinander befreundet. Der eine ging ins bürgerliche Leben; der andere tat den Kierkegaardschen Sprung in den bewaffneten Kampf. Der Tod des einen riss eine Leerstelle, von der ein starker Sog ausging. Fortan kümmerte sich Conradt um das 68er-Erbe, vor allem um Holger Meins. Er besuchte jahrelang dessen Vater Wilhelm Meins, »der 100 Prozent zu seinem Sohn stand«, nahm die Gespräche auf, machte seinen ersten Film über Holger Meins, veröffentlichte vor einem Jahr ein schönes Buch über Meins im Espresso-Verlag, plant eine CD-Rom und eine Ausstellung.

Von außen hat man den Eindruck, Conradt wolle mit seiner Arbeit eine Schuld abtragen, die vielleicht umso schwerer wiegt, als es zwischen den beiden nie die Nähe gegeben zu haben scheint, nach der sich der Filmemacher wohl gesehnt hatte. Dass Conradt die anderen sprechen lässt, aber selbst kaum etwas sagt über Holger Meins, wirkt wie Abwehr. In dem Buch »Starbuck« gibt es ein Interview, in dem Conradt den vor zwei Jahren gestorbenen Experimentalfilmer Hellmuth Costard fragt: »Ist Holger für dich ein Heiliger?«, und ein einziges Bild, auf dem Meins und Conradt zusammen stehen. Zwischen ihnen ist eine Kamera, die Holger Meins hält.

»Starbuck«, D 2001. R: Gerd Conradt. Start: 23. Mai