Claire Devers’ Film »Die Diebin von Saint Lubin«

Liebe Diebe

»Nehmen Sie mich in die Kartei auf!« So lautet der erste Satz in Claire Devers' Film »Die Diebin von Saint Lubin«. Der Zuschauer vernimmt die Forderung einer Frau, die durch die Glasscheibe eines Sozialamts spricht, und wird so zum Adressaten ihres Begehrens. Die Frau verlangt, eine schlecht bezahlte Arbeit in einer Lebensmittelfabrik verrichten zu dürfen, obwohl dort ihr Einkommen niedriger wäre als der Sozialhilfesatz. Sie möchte nur ihre Miete bezahlen und ihren Töchtern die »empfohlene Tagesration an Kalorien, Fett, Proteinen zukommen lassen«.

Devers beschreibt eine Frau aus armen Verhältnissen, »die sich nichts zu Schulden kommen lassen will« und die dennoch scheitert. Die Regisseurin greift damit einen authentischen Fall von 1996 auf, der dadurch bekannt wurde, dass eine Mutter an einem Tag in verschiedenen Supermärkten für über 1 500 Franc Fleisch und Fisch stahl. Sie wurde erwischt und vor Gericht gestellt.

Im französischen Kino gibt es spätestens seit Robert Bressons Film »Pickpocket« eine Vorliebe für Diebe. Für ihr Milieu, ihre Sprache, für das Handwerk selbst. Claire Devers' Diebin spricht jedoch nicht die Sprache der Kleinkriminellen, sie ist nicht Teil dieses Milieus, sie begeht lediglich eine Verzweiflungstat, die juristisch gesehen ein Delikt ist.

Die wiederholte Frage an die Polizeibeamten, »komme ich ins Gefängnis?«, scheint auch einen kuriosen Wunsch auszudrücken. Geschieht mir jetzt Recht? Irgendwann brummt jemand genervt: »Aber nein«. Vor Gericht erscheint sie dennoch mit gepackter Tasche, »für alle Fälle«. Außerdem mit einer Mappe, in der sich ihre gesamte Buchführung befindet. Akribisch hat sie jede ihrer Einnahmen und Ausgaben notiert, vom Kindergeld bis zum Päckchen Nudeln. Ihr Anwalt plädiert auf Notstand, das Gericht folgt der Verteidigung, die Frau wird freigesprochen. Über den dunklen, leeren Parkplatz des Gerichts trägt sie ihre Tasche nach Hause und ahnt nicht, dass ihr Fall damit noch lange nicht abgeschlossen ist.

Mit diesem Fall, der dem Film zugrunde liegt, befasste sich damals Le Monde. Ein Kommentar dieser Tageszeitung stieß eine Debatte über Justiz und Gerechtigkeit an, doch der politischen Dimension kann sich Claire Devers kaum nähern. »Es hat doch etwas Krankhaftes, wenn die Existenz dermaßen vom Einkommen abhängig gemacht wird«, sagt sie und es schwebt ihr offensichtlich ein Publikum vor, dass sich ein Leben in Armut nicht vorstellen kann. So führt sie in ihren Bildern vor, was es heißt, arm zu sein. Es wird endlos gerechnet, dann werden Eier gekauft, drei Franc werden hingelegt, die fast die gesamte Leinwand ausfüllen, und die Registrierkasse rattert laut.

Devers überzeichnet das Bedürfnis der Frau nach kleinbürgerlicher Normalität, in der ein anderes Begehren als das nach materieller Grundversorgung nicht vorstellbar zu sein scheint. »Rosetta«, der (Anti-)Heldin aus dem gleichnamigen Film der Gebrüder Dardenne, ging es ähnlich. Doch hier erreichte der Überlebenskampf Rosettas eine unerträgliche physische Intensität. Devers dagegen bleibt nüchtern. Die Armseligkeit ihrer Figur spiegelt sich lediglich in Quittungen, Fleischpaketen und ihrer Wahl des Front National wider.

»Die Diebin von Saint Lubin« (F 1999). R: Claire Devers. Start: 23. Mai