Truppenabzug der Nato vom Balkan

Tschüss Boys

Die Nato will einen Teil ihrer Truppen vom Balkan abziehen. Fortschritte im politischen System Bosniens gibt es derweil nur auf dem Papier.

Die »verbesserte Sicherheitslage«, hieß es am Freitag voriger Woche in einer Stellungnahme der Nato aus Brüssel, ermögliche es, dass das transatlantische Bündnis seine militärischen Aktivitäten auf dem Balkan stufenweise zurücknimmt. Ende dieses Jahres sollen in Bosnien von den derzeit 19 000 Sfor-Soldaten nur noch 12 000 übrig bleiben, im Kosovo soll die Kfor von aktuell 38 000 Mann auf 33 200 verringert werden.

Mit der Truppenreduzierung folgt die Nato vor allem dem US-amerikanischen Wunsch, die Ressourcen des Bündnisses nicht länger auf dem Balkan zu binden. »Our boys must go home«, hatte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld schon vor Monaten gefordert. Aber nach Hause wird es für die Boys wohl nicht gehen. Schon eher zu Einsätzen im »Kampf gegen den Terror«. Nicht mehr kleine Kinder in die Schule zu begleiten, wie derzeit in Teilen Bosniens, wird dann der Kampfauftrag der Truppe lauten, sondern Diktatoren wie Saddam Hussein aus dem Amt zu schießen oder vermutete Verstecke des terroristischen Netzwerks al-Qaida auszuheben.

Mit der Lokalisierung neuer Einsatzgebiete formt sich auch eine neue Bündnispolitik der USA. Beim »Kampf gegen den Terror« sind die europäischen Nato-Verbündeten aufgefordert, innereuropäische Angelegenheiten künftig selbst zu regeln. In Mazedonien darf die militärisch bislang nicht ernsthaft in Erscheinung getretene Europäische Union erstmals das Kommando einer Militäraktion übernehmen, wenn das Mandat für die Nato-Mission »Amber Fox« im Oktober endet.

Zwar existieren in den Protektoraten Bosnien und Kosovo eigenstaatliche Organe, was im Falle des Kosovo eindeutig Beschlüssen der Vereinten Nationen widerspricht, die die Region nach wie vor als serbische Provinz definieren. Doch vor allem sind sie eben Nato-Protektorate. Noch immer ist die Lage im Kosovo angespannt, und selbst in Bosnien, wo die Nato seit dem Dayton-Vertrag, der im November 1995 den dortigen Krieg beendete, maßgeblich an der Schaffung einer Friedensordnung beteiligt ist, wurden noch lange keine stabilen Verhältnisse hergestellt.

So hatte im Juli 2000 das bosnische Verfassungsgericht umfassende Änderungen in den Verfassungen der beiden Teilrepubliken des Landes angeordnet. In der serbisch dominierten Republika Srpska wie in der muslimisch-kroatischen Föderation, so befand das Gericht, seien die Rechtsprechung, die Postenverteilung in der Administration sowie die Sonderstellung der Entitätsparlamente diskriminierend und stellten einen Verstoß gegen die gesamtbosnische Verfassung dar. Und dies sei bereits in den verfassungsrechtlichen Fundamenten beider Teilrepubliken angelegt. Während in der Föderation nur die muslimischen und kroatischen Bevölkerungsgruppen als konstituierend gelten, wird in der serbisch dominierten Entität nur den serbischen Bewohnern dieser Status zugestanden.

In Bosnien aber beruht das politische System seit Dayton nicht mehr auf den gleichen Prinzipien, die in anderen bürgerlich verfassten Staaten gelten. Während anderswo nur Staatsbürger legislative, exekutive oder judikative Funktionen ausüben dürfen, haben in den wichtigsten bosnischen Institutionen auch Ausländer ein Wort mitzureden, manchmal sogar ein paar mehr.

Weil die US-amerikanischen, britischen, französischen, russischen, deutschen und italienischen Diplomaten der damaligen Balkan-Kontaktgruppe fürchteten, die bosnischen Politiker würden ohne internationale Aufsicht erneut dem Ethnonationalismus der Kriegs- und Vorkriegszeit verfallen, räumten sie dem Hohen Repräsentanten Befugnisse ein, die an die Vollmachten kolonialer Protektoratsherrn erinnern.

Auch die drei internationalen Richter, die dem obersten Gericht des Landes angehören, haben ausdrücklich das Recht, in Pattsituationen zwischen den Vertretern der einstigen Kriegsparteien zu entscheiden. Bei ihren Maßnahmen gaben die Richter wie die diversen Hohen Repräsentanten stets vor, einem Ziel verpflichtet zu sein: der Schaffung einer so genannten multi-ethnischen Demokratie.

Noch mehr als zwei Jahre nach dem Schiedsspruch des höchsten Gerichts, der nur durch die Intervention der nicht bosnischen Richter zustande gekommen war, weigerten sich die Nationalisten in den Entitätsparlamenten immer noch beharrlich, die angemahnten Verfassungsänderungen zu implementieren. Nur drei der neun wichtigsten Parteien stimmten im März einem vom amtierenden Hohen Repräsentanten Wolfgang Petritsch ausgehandelten Abkommen zu, das die parlamentarische Umsetzung des Urteils vorsah.

Die durch einen Passus im Wahlgesetz vorgeschriebene Frist aber, die Änderungen 170 Tage vor der nächsten Wahl abzuschließen, verstrich Ende April dieses Jahres, ohne dass die erforderlichen Mehrheiten erreicht worden wären. Das bescherte Petritsch, der kommende Woche seinen Posten aufgibt, seinen letzten großen Auftritt. Nach dem Verstreichen dieser Frist reduzierte der Österreicher diese kurzerhand auf 169 Tage. Tags darauf machte er von seiner Vollmacht Gebrauch und verordnete einfach per Dekret die entsprechenden Novellen.

Nun sind die Rechtsordnungen der Teilrepubliken sicher etwas weniger völkisch ausgerichtet. Dennoch stehen Petritschs Nachfolger Paddy Ashdown, dem früheren Vorsitzenden der britischen Liberalen, schwierige Zeiten bevor. Der geplante Truppenabzug bedeutet die wohl härteste Probe für das Protektorat. Zudem sollen die für Oktober angesetzten gesamtbosnischen Parlamentswahlen die letzten sein, die unter der Aufsicht internationaler Beobachter stattfinden. Drei Monate später läuft das Mandat der Uno-Mission in Bosnien-Herzegowina (Unmibh) aus, die seit Kriegsende den Aufbau einer nationalen Polizei organisiert und finanziert hatte.

Damit Ashdown deshalb nicht eines Tages als Protektor ohne Vasallen dasteht, empfiehlt beispielsweise die einflussreiche und in Brüssel ansässige International Crisis Group, die Befugnisse der Behörde auszuweiten. Es komme darauf an, die konkurrierenden Kompetenzen der verschiedenen ausländischen Agenturen stärker zu bündeln, um so einen geordneten Abzug aus Bosnien in sieben bis acht Jahren vorzubereiten. »Exit Strategy« heißt das.

Neben der ersten unter der alleinigen EU-Ägide stehenden Militärmission in Mazedonien kommt Bosnien als Blaupause für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Union eine große Bedeutung zu. Angesichts der schwindenden Bereitschaft der US-Regierung, die poststaatlichen Protektorate auf dem Balkan finanziell und administrativ zu unterstützen, können es sich die Südosteuropa-Strategen in Brüssel, Berlin und Paris kaum leisten, dem Verlust des Ansehens der europäischen Institutionen weiter zuzuschauen.

Dass Verfassungsänderungen wie die von Petritsch dekretierten ein hilfreiches Mittel sind, um den Schein erfolgreicher westlicher Demokratisierungsstrategien zu wahren, ist offensichtlich. Inwieweit dies den vermeintlichen Profiteuren des internationalen Protektorats gefällt, könnten die Parlamentswahlen im Oktober zeigen.

Ob aber »das Zeitalter der nationalistischen Dinosaurier« wirklich vorbei ist, wie Petritsch es jüngst sagte, und ob das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den verfeindeten Bevölkerungsgruppen, das bislang durch die Anwesenheit von Nato-Truppen hergestellt wurde, einem politischen Gleichgewicht weicht, wird sich erst erweisen, wenn die US-Boys an anderen Fronten für Frieden sorgen.