Eröffnung der Fußball-WM in der südkoreanischen Botschaft

Unser Mann in Südkorea

Die Fußball-WM 2002 läuft. Der ferne Osten rückt näher. Jungle World schickte ivo bozic ins Land der offenen Fragen
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Südkorea. Ferner, ferner Osten. Noch vor zwei Wochen gewann ich eine Wette gegen einen Kollegen, der doch tatsächlich glaubte, Nord- und Südkorea hätten sich wieder vereinigt. Haben sie aber nicht. Und werden sie auch nicht so bald. Sehr viel mehr wissen jedoch die wenigsten Menschen hierzulande über Korea. Zumindest war das so bis zur letzten Woche. Ab jetzt ist natürlich alles anders. Weil Milliarden Menschen täglich auf dieses kleine asiatische Land schauen werden - und auf Japan natürlich, aber das kennt man ja, schon allein vom Sushi-Restaurant.

Auch mir fehlen alle wesentlichen Korea-Kenntnisse, weshalb ich gar nicht verstehe, warum die Redaktion ausgerechnet mich zur WM-Eröffnungsfeier schickte. Auf jeden Fall bin ich jetzt hier. Als einziger Jungle-Reporter, der direkt aus Südkorea über die WM berichten darf. Doch, doch! Wirklich! Das Botschaftsgelände ist südkoreanisches Staatsgebiet, auch wenn es sich mitten in Berlin befindet. Und es hat den Vorteil, dass die Anreise aus Friedrichshain relativ flott geht. Dass mir die Redaktion dennoch nicht einmal die 2,10 Euro für den ÖPNV zahlen will, weil ich ja Vespa-Fahrer sei, hat mich allerdings ein wenig geärgert. Man tröstete mich mit der Aussicht auf ein sicher umfangreiches Büfett.

Na gut. In der Tat soll es, wie es in der Einladung heißt, Häppchen geben, genauer »einen koreanischen Imbiss«. Die in Deutschland zurückgebliebenen Freunde hatte ich gefragt, ob sie wüssten, was mich erwarten würde. Frühlingsrollen? Sushi? China-Pfanne? Die koreanische Küche scheint hierzulande völlig unbekannt zu sein. Standardspruch: Da musst du unbedingt mal Hund probieren! Habe jedenfalls den Auftrag, nähere Informationen einzuholen.

Südkorea ist nicht sehr groß. Etwa so groß wie Island. Und auch die Botschaft macht einen bescheidenen Eindruck. Auf engstem Raum drängeln sich die Besucher vor einer riesigen Videoleinwand. Ständig bringen Botschaftsangestellte neue Stühle herein, ich muss trotzdem stehen. So habe ich mir U-Bahnen in Tokio vorgestellt.

Wer sind diese ganzen Menschen, die unbedingt auf koreanischem Boden die WM-Eröffnung erleben wollen? Natürlich nur geladene Gäste. Eine Reihe von Südkoreanern und Japanern in Anzügen; ebenfalls schick: Personal aus Konsulaten anderer Länder. Außerdem jede Menge Journalisten, Kameraleute, Fotografen, die gar nicht wissen, was sie filmen oder fotografieren sollen. Denn außer der Großbildleinwand und den Stühlen davor gibt es hier absolut nichts zu sehen. Also interviewen sich die Journalisten gegenseitig, wie das eben so üblich ist.

Nicht hier in der Botschaft ist glücklicherweise Günter Grass. Denn der ist im richtigen Südkorea und hampelt dort im Auftrag des Goethe-Instituts als »deutscher Beitrag zum kulturellen Rahmenprogramm« herum. Was sollen die Koreaner nur über die Deutschen denken? Zumal als weiterer offizieller Deutschlandexport acht Polizisten aus verschiedenen deutschen Großstädten zur WM gefahren sind, um den Schlitzaugen mal zu zeigen, wie man mit Hooligans umgeht. »Fußball-Randalierer sind in Japan und Südkorea völlig unbekannt«, erläuterte ein Beamter vor dem Abflug. Na, da hat das Goethe-Institut wohl versagt bei der Vermittlung deutscher Kultur. Kein Wunder, wenn man den Grass schickt.

Deutsche gelten dort vor allem als Experten in Sachen Wiedervereinigung. Hoffentlich hat der Grass ihnen dann auch erzählt, dass man zu einer zünftigen Wiedervereinigung Bananen braucht. Ich weiß gar nicht, ob dort so was wächst.

Plötzlich wird es still im Saal, und vorne ans Mikrofon tritt ein sympathisch lächelnder kleiner Mann, der als Botschafter der Republik Korea vorgestellt wird. Er spricht Deutsch mit einem unglaublich komischen Akzent. »Von Herzen« klingt bei ihm wie »von Höartschn«. Nach ihm tritt ein anderer kleiner Mann ans Mikro, der Botschafter von Japan. Er redet Englisch. Und macht Witze über die grandiosen Aussichten seines Landes bei der WM. Dann schütteln die beiden Botschafter noch Hände und lächeln in Kameras. Wenn das keine Geste ist! Wo doch das Verhältnis beider Staaten immer noch so gestört ist. Schließlich war Japan lange Zeit Kolonialherr in Korea, aber das wissen Sie ja inzwischen durch die WM-Berichterstattung. Von wegen Fußball macht dumm!

Jetzt ist es so weit, die Eröffnungszeremonie beginnt. Licht aus im Raum und Spot auf die Leinwand. Wir sehen das riesige Stadion mit seinen 64 000 Zuschauern. Es ist die ARD-Übertragung, leider nicht das koreanische Fernsehen. Das hatte ich mir eigentlich erhofft. Stattdessen muss ich mir nun anhören, wie ein ARD-Reporter die Eröffnungsfeier erklärt. Das ist etwa vergleichbar mit der Kommentierung des Rosenmontagszuges. »Hier sehen wir, wie die Darsteller einen Kreis bilden.« Tatsächlich, wir sehen es! Und damit der Reporter nicht nur erklärt, was wir ohnehin sehen, versucht er, seiner Funktion als Kommentator gerecht zu werden.

In diesem Zusammenhang fällt immer wieder das Wort Disziplin. Offenbar etwas, was er als Wesensmerkmal der Koreaner ausgemacht hat. »Sie stehen wie eine Eins.« Ja, sie stehen da herum und winken mit Tüchern, Fahnen, schlagen auf Trommeln. Das eine sind Kriegermönche, weiß der Moderator; warum die Frauen dort Ballonhosen tragen, weiß er aber nicht. Aber Disziplin haben sie, die 2 300 Tänzer und Musiker, wird nochmals betont. Und dass sie sage und schreibe drei Jahre für diese Massenszene geprobt hätten.

Kim Dae Jung, der koreanische Staatspräsident, ist inzwischen ins Stadion eingezogen, gemeinsam mit seiner Frau. Der japanische Kaiser hat leider abgesagt. Ob er immer noch sauer ist, weil ihm Korea nicht mehr gehört, oder ob er gestern ein n-tv-Interview bei Maischberger gegeben hat - auch der Kommentator weiß nicht wirklich, warum wir auf die Hoheit verzichten müssen.

Statt seiner kommt aber jetzt der Fifa-Präsident Joseph Blatter. Gerade eben auf undurchsichtige Weise trotz handfester Korruptionsvorwürfe wieder »gewählt«, ergreift er vor Milliarden von Fernsehzuschauern das Wort. Leider kann man als Fernsehzuschauer nur vor sich hin schimpfen, ohne dass es was bewirkt. Doch glücklicherweise übernimmt das koreanische Publikum im Stadion das Auspfeifen Blatters. Er guckt ganz schön dumm aus der Wäsche. Tolles Publikum. Ich freue mich auf die WM!

Auch Kim, der Boss, redet kurz. Wirkt aber sehr steif. Der Reporter verkneift sich das mit der Disziplin, aber inzwischen klingt es schon von ganz allein in meinen Ohren. Hier hätte es sogar gepasst.

In der Botschaft ist es inzwischen noch voller geworden. Eine Gruppe junger Bundestagsmitarbeiter der FDP ist einmarschiert, alle mit »18«-Sticker am Revers. Dabei waren in der Pressemappe der koreanischen Botschaft vier klasse WM-Anstecknadeln und ein Schlüsselanhänger. Wenn ich die verkaufe, habe ich die Reisekosten vielleicht wieder drin. Ein koreanischer Fernsehreporter will mich unbedingt interviewen. Ich kann das abwehren. Ich solle doch wenigstens einen Tipp abgeben, wer denn Weltmeister wird. Ich weiß es, denn ich habe alles genau durchgerechnet. Doch warum sollte ich es verraten? Also muss ich auch diese Bitte leider ablehnen. Aber lächeln, immer schön lächeln, darauf hat mich mein Mitbewohner eingeschworen, der war neulich in Thailand.

Das Motto der WM-Feier lautet übrigens »From the East«. Wenig originell, wie ich finde. So als wenn die USA ihre WM »Test the West« genannt hätten. Apropos Zigarettenwerbung: Eine Popband tritt auf, bestehend aus koreanischen und japanischen Sängern. Nicht in der Botschaft, sondern auf der Leinwand. Sie singen ein Lied mit dem Refrain »Let's get together now«. Ob damit auch Nord- und Südkorea gemeint sind, bleibt offen. Jedenfalls wenn man die Sprachen nicht versteht und auf den Kommentar der ARD angewiesen ist.

Vorher gab es aber noch eine gewaltige Trommelshow, und auch Elektrogitarren kamen kurz ins Bild. Teletubbies mit Bildschirmköpfen tänzelten winke-winke über den Rasen. Dazu eine folkloristische Glocke mit Computermonitoren drin. Irgendwie soll das alles die Einheit von alten Traditionen und neuen Technologien symbolisieren. Erklärt die ARD und ist in dieser Plumpheit auch beim besten Willen nicht zu übersehen. Kinder, Papierschiffchen und Feuerwerk und Luftballons, die gen Himmel fliegen, dürfen natürlich auch nicht fehlen. Nur auf weiße Tauben hat man verzichtet. Besser so. Bei all den Hubschraubern, die da über dem Stadion kreisen, wäre das auch nicht zu verantworten gewesen. Außerdem weiß man nie, ob die Aliens das nicht falsch verstehen.

Dann ist die Eröffnungsparty zu Ende, und in der Botschaft wird auch etwas eröffnet: das Büfett. Endlich. Ich bin einer der ersten. Doch mir sagen all die Dinge nichts. Ich wechsele also meine ersten Worte mit echten Südkoreanerinnen. Sie stehen hinter den Tischen und erklären die Speisen. »Da ist Schaweinefaleisch«. Frittiert und süß-sauer. Lecker, her damit. Es gibt ferner fischloses Sushi, rohen Fisch, Rind- und Entenfleisch, Garnelen im Teigmantel, Gemüsepuffer, Reis, Sellerie mit Salsa-Soße, Weintrauben, Fischchips und jede Menge Zeug, das ich beim besten Willen nicht identifizieren kann. Auch Hund. Aber der sitzt neben dem Büfett auf dem Fußboden und erfreut sich bester Gesundheit.

Während sich alle im schmalen Flur drängeln, in dem das Büfett angerichtet ist, ist im anderen Raum die Videoleinwand dunkel. Ein Deutscher mit Mallorca-Schnäuzer und Mega-Bierbauch läuft hektisch durch die Gegend. »Das Spiel hat doch schon begonnen, und die machen den Fernseher nicht an, ey, was soll das denn, kann nicht mal jemand den Fernseher anmachen? Ich bin hier wegen dem Fußball, nicht wegen dem Büfett!« Und da ist er auch noch stolz drauf! Wir andern schütteln mitleidig die Köpfe. Plötzlich habe ich Lust auf ein Bier. Kein Problem, Bier gibt es auch.

Andererseits: So langsam bin ich satt, und natürlich will auch ich das Spiel sehen. Als ich in den Saal gehe, läuft bereits die zehnte Minute. Ich setze mich in die erste Reihe. Brille vergessen. Neben mir sitzt der koreanische Botschafter, ganz allein. Hat er keine Freunde? Er hat sich auch einen Teller vom Büfett besorgt, isst als einziger mit Holzstäbchen. Die anderen essen mit Messer und Gabel oder mit Metallstäbchen, die am Büfett ausliegen. Muss ich nachher unbedingt mitgehen lassen!

Nach und nach gehen immer mehr Leute nach Hause, verabschieden sich beim Botschafter, bedanken sich für die Einladung, sprechen ihrerseits eine Einladung aus, und weg sind sie. Ob die alle Premiere haben? Oder interessieren die sich gar nicht für Fußball? Jedenfalls wird es jetzt richtig leer im Raum. Sogar die FDPler sind nach erfolgreicher Plünderung des Büfetts abgehauen. Hinter mir unterhalten sich zwei Mitarbeiter verschiedener Botschaften: »Prenzlauer Berg wohnen Sie? Das soll auch nett sein dort.« - »Ich kenne Berlin kaum. Mit zwei Kindern, da steht doch die Familie sehr im Mittelpunkt.« Hey Leute, da vorne läuft ein Fußballspiel!

Ja, das Fußballspiel. Also Frankreich gegen Senegal. Bemerkenswert ist vor allem, dass alle Spieler Senegals in Frankreich spielen, während alle, oder so gut wie alle französischen Spieler eben nicht in Frankreich spielen, sondern in Manchester oder weiß der Teufel wo. Kann man unter diesen Umständen überhaupt noch von einem Länderspiel reden? Jedenfalls hatte ich das so nicht bedacht, als ich meinen Tipp abgab. Ich dachte, Senegal, nie gehört, erste WM-Teilnahme. Da werden die Franzosen ein leichtes Spiel haben. Zumal mich die Bild zuletzt auf eine falsche Fährte geführt hatte, indem sie noch vorgestern die Hoffnung nährte, Zidane spiele womöglich doch. Also hatte ich 2:0 für Frankreich getippt und hielt auch ein 3:0 für möglich.

Aber nun sind alle auf dem Platz irgendwie Franzosen. Wobei erwähnt werden muss, dass auch die Franzosen, die für Frankreich spielen, größtenteils Schwarze sind, also vielleicht sogar aus dem Senegal stammen, womit das Chaos perfekt wäre. Sind wir nicht alle ein bisschen Senegalesen und Franzosen?

Die jetzt für, aber sonst nicht in Frankreich spielenden Franzosen machen jedenfalls einen außerordentlich schlechten Eindruck, in der 25. Minute beginnt es leicht zu regnen, und in der 30. schießen die Senegalesen das 0:1. Jubel bricht aus in der Botschaft. Koreaner solidarisieren sich grundsätzlich mit Außenseitern - wie alle Außenseiter. Auch die Deutschen jubeln. Was diese These nur bestätigt. Endlich darf auch der ARD-Reporter seinen Spruch bringen. Ich meine, den Spruch, auf den wir alle warten. Nachdem er sich die schon sprichwörtlichen »quirligen Exoten« verkniffen hat, seufzt er nach dem Tor voller Inbrunst: »Mein Gott, was wird da in Dakar möglicherweise jetzt wie wild getrommelt.« Der Satz des Tages ist geboren! Ja, ich liebe Weltmeisterschaften!

Das Spiel wird erst in der letzten halben Stunde wieder richtig spannend, als Frankreich noch mal alles gibt. Aber ohne Zidane geht offenbar gar nichts. Es bleibt beim 0:1. Der Außenseiter gewinnt. Da freut sich auch mein linkes Herz. Nicht dass ich etwas gegen die Franzosen hätte. Aber die waren letztes mal Weltmeister, jetzt sind mal andre dran.

»Glauben Sie, Korea kann Weltmeister werden?«, fragt mich ein lächelnder koreanischer Kameramann, der seine Geräte längst abgebaut und eingeräumt hat. So ein Quatsch, denke ich, lächele und erkläre ihm: »Korea wird genau dann Weltmeister, wenn es sich wieder vereinigt hat, keinen Tag früher.« Schließlich bin ich ein Wiedervereinigungsexperte aus Deutschland. Wer Weltmeister wird, verrate ich ihm aber nicht. Sonst nehme ich ihm ja die ganze Spannung.

Nach dem Schlusspfiff brechen alle verbliebenen Sportfreunde schnell auf. Das Büfett ist schon eingepackt. Den Botschafter sehe ich auch nirgendwo mehr. Auch der Hund ist weg! Oje! Als ich schon an der Tür bin, spricht mich der koreanische Kameramann noch mal an: »Wussten Sie, dass bei uns der 3. Oktober auch Feiertag ist?« Ich staune. Ist Korea doch schon wieder vereinigt? Sollten sie also doch Weltmeister werden? Der Kameramann lächelt - aber diesmal süffisant: »Am 3. Oktober wurde 2 333 Jahre vor Christus der erste koreanische Staat gegründet.« Ich schaue ihn ungläubig an, lächele, aber diesmal unsicher.

Zu Hause schaue ich in einem Prospekt nach, den ich in der Botschaft eingesteckt habe. Tatsächlich. Ein gewisser König Dangun soll der Staatsgründer gewesen sein. Er war Sohn eines Gottes und einer Frau des Bärentotemstammes. Krass! Jetzt war ich drei Stunden in Südkorea und habe den Eindruck, noch weniger von diesem Land zu verstehen als vorher. Zum Endspiel geh ich zu den Japanern. Und dann vergesse ich auch nicht die Essstäbchen aus Metall.