Ein Plenum in Ruinen

In Afghanistan begannen die Beratungen der Loya Jirga. Die Versammlung von Warlords, Politikern und Vertretern diverser Bevölkerungsgruppen soll eine neue Übergangsregierung bilden.

Zahir Schah dürfte während der Eröffnungsrede mit Wehmut an jene drei Loya Jirgas gedacht haben, die er als König in den fünfziger und sechziger Jahren leitete. Auch damals war es nicht leicht, die renitenten regionalen Herrscher von Rebellionen abzuhalten und einen Ausgleich zwischen den Interessen mächtiger Gruppen der afghanischen Gesellschaft zu erreichen. Die Loya Jirga, die große Ratsversammlung in Kabul, steht heute vor der Aufgabe, bis zum 16. Juni eine neue Übergangsregierung für die kommenden 18 Monate sowie eine Verfassungskommission für ein Land zu bestimmen, das in unzählige Territorien rivalisierender Warlords zersplittert ist.

Im kulturell äußerst heterogenen Afghanistan stellt die Loya Jirga vielleicht die einzige nationale Klammer dar, die von fast allen Afghanen akzeptiert wird. So forderten in der Vergangenheit immer wieder Afghanen jedweder politischer Couleur die Abhaltung einer Loya Jirga, um Konflikte friedlich beizulegen. Wenn es nicht gelingt, aus den zerstrittenen Kriegsparteien und Fraktionen eine gemeinsame Zentralregierung zu bilden, rückt eine friedliche Zukunft des Landes in weite Ferne.

Die erste Loya Jirga wird auf das Jahr 1719 datiert, als Mir Wais Hotak auf einer Versammlung miteinander zerstrittene Stämme und Clans einigte und mit ihrer Hilfe die Herrschaft der persischen Safaviden über die südafghanische Stadt Kandahar beendete. Seitdem kam es in der afghanischen Geschichte ungefähr zu zwei Dutzend Versammlungen, die sich Loya Jirga nannten. Die Tatsache, dass es für den mongolisch-paschtunischen Begriff kein politikwissenschaftliches Äquivalent gibt, zeigt das Dilemma dieser Versammlung auf. Es fehlen festgelegte Regeln, wie eine Loya Jirga ablaufen soll, was ihre Aufgaben sind und wer in ihr vertreten sein soll.

In den idealisierten Vorstellungen vieler Afghanen kommen in einer Loya Jirga Repräsentanten aller Bevölkerungsgruppen des Landes zusammen und diskutieren so lange über ein Thema, bis im Konsens eine Entscheidung gefällt wird. Jedoch zeigt ein Blick in die Geschichte, dass nicht die Repräsentanten, sondern immer die Machthaber die Ausrichtung der Loya Jirga bestimmten. Die Herrscher beriefen eine Loya Jirga ein, wählten die Teilnehmer aus und gaben die zu treffenden Entscheidungen vor, die dann von den Teilnehmern als »Wille des Volkes« abgenickt wurden. In dieser Weise bediente sich zuletzt das kommunistische Regime in den achtziger Jahren der Loya Jirga, um nationale Einheit und demokratische Partizipation zu demonstrieren.

Doch diesmal soll alles anders werden. So legte die von der Uno eingesetzte Kommission einen genauen Schlüssel und einen Kodex fest, wer teilnehmen darf und wer nicht. Die Versammlung besteht aus 1 051 Vertretern aller Verwaltungseinheiten und 464 Repräsentanten ausgewählter Gruppen - wie Frauen, Geistliche, Flüchtlinge, Professoren, Nomaden und Händler -, die in freien Wahlen bestimmt werden sollten.

Dieser Schlüssel weckte Unmut bei vielen Afghanen. Einige Regionen und Gruppierungen, wie etwa die Nomaden, sahen sich nicht entsprechend ihrer Zahl vertreten. Andere mokierten, dass neue Verwaltungseinheiten eingerichtet wurden, wie im Panjshir-Tal und in Badakhshan, oder dass Universitäten, die es nur auf dem Papier gibt, Abgeordnete entsenden.

Trotz dieser Kritik und des Problems dass Afghanistan von zahlreichen Warlords beherrscht wird, verliefen die Wahlen der Delegierten, die in den letzten zwei Monaten überall im Land stattfanden, überraschend friedlich und geordnet. Mit der Loya Jirga wird die Ermordung von acht Personen in Verbindung gebracht, eine für afghanische Verhältnisse geringe Zahl.

Die Wesentliche Ursache für diesen fast reibungslosen Verlauf ist es, dass das Gerangel um die Nominierung der Abgeordneten schon vor den eigentlichen Wahlzusammmenkünften stattfand. »Warlords greifen nach der Macht, indem sie in unverschämter Weise den Wahlprozess manipulieren«, urteilte Sam Zia-Sharif von Human Rights Watch. Die politischen Akteure stellten mit bewährten Mitteln wie Bestechung und Einschüchterung bereits vor Monaten die Weichen, um ihre Kandidaten durchzusetzen. Die herrschenden klientelistischen Strukturen bildeten hierfür geeignete Bedingungen.

Nur ein Bruchteil der Delegierten kann daher als frei gewählt betrachtet werden. Auch das hehre Ziel, nur integre Abgeordnete zur Loya Jirga zuzulassen, konnte in dem Land, das sich seit über 20 Jahren im Bürgerkrieg befindet, nicht aufrechterhalten werden. So ließ sich etwa Rashid Dostum wählen, der große Teile Nordafghanistans beherrscht und als einer der skrupellosesten Warlords gilt.

Und nicht nur die Wahlen wurden manipuliert, auch die meisten Entscheidungen dürften bereits vor Beginn der Loya Jirga festgestanden haben. So haben die ausländischen Mächte, vor allem die USA, ein eindeutiges Interesse daran, dass bestimmte Entscheidungen zustande kommen, und sie werden auch nicht davor zurückschrecken, den entsprechenden Druck auf die Delegierten auszuüben.

Es scheint sicher, dass der Interimspräsident Hamid Karzai, der als Mann des Westens gilt, im Amt bestätigt wird. Auch liegt es im Interesse des Westens, das labile Gleichgewicht in der Regierung, das in den Petersberger Verhandlungen (Jungle World, 51/01) austariert wurde, zu erhalten. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass die so genannte Panjshiri-Troika, eine Fraktion der Nordallianz, die mit dem Außen-, dem Innen- und dem Verteidigungsministerium die Schlüsselressorts innehat, einen Posten abgeben muss.

Verteidigungsminister Mohammad Fahim will davon allerdings nichts wissen. »Unser Kandidat ist Herr Karzai«, erklärte er am vorigen Samstag. Er strebt dessen Wiederwahl »mit derselben Zusammensetzung des gegenwärtigen Kabinetts« an. Doch die Dominanz der Panjshiri in der Regierung wird von vielen Afghanen abgelehnt und sorgt für Spannungen in der Regierung. Abdullah Abdullah, der als das schwächste Glied in der Troika gilt, wird wohl sein Amt als Außenminister niederlegen müssen. Dagegen wird die Panjshiri-Troika kaum dazu bereit sein, das Innen- oder das Verteidigungsministerium, denen die Kontrolle über die Sicherheitskräfte obliegt, aufzugeben.

Andere Politiker, die auf dem Petersberg zu kurz kamen, dürften versuchen, sich wieder ins Spiel zu bringen. Vor allem der ehemalige Präsident Burhanuddin Rabbani, ein radikaler Islamist, war in den letzten Monaten äußerst umtriebig, um seine Kandidaten für die Loya Jirga durchzusetzen. Auch die Royalisten haben an Einfluss gewonnen. Obgleich das Petersberger Abkommen die Rolle des ehemaligen Königs Zahir Schah auf die Eröffnung der Loya Jirga beschränkt, sind seit seiner Rückkehr Mitte April die Stimmen, die nach seiener Reinthronisierung rufen, lauter geworden. Besonders die paschtunischen Stämme Südafghanistans sprechen sich für eine gewichtige Rolle Zahir Schahs aus und schwächen so die Position Hamid Karzais, der eigentlich als Parteigänger des Königs gilt. Denn Karzai hat die USA hinter sich, verfügt im Land selbst aber kaum über Unterstützung.

Auch für den Schutz der Loya Jirga ist Karzai auf die internationale Sicherheitstruppe (Isaf) angewiesen. Ihre islamistischen Gegner, zu denen neben den Taliban und der al-Qaida auch die Hizb-i-Islami Gulbuddin Hekmatyars zählt, sprechen der Versammlung jede Legitimation ab, und es ist zu befürchten, dass sie zum Ziel von Anschlägen werden könnte.

Größer allerdings ist die Gefahr, dass politische Gruppierungen, die in den Verhandlungen ihre Interessen nicht durchsetzen können, den Einigungsprozess behindern. Doch auch wenn eine aus der Loya Jirga hervorgehende Übergangsregierung keine demokratische Legitimation beanspruchen kann, geht es bei dieser Etappe der Verhandlungen vor allem um die Frage, ob der Staat Afghanistan eine Zukunft hat.