Familie Sendilmen ist von Pirna nach Berlin gezogen

Wieder ganz normal leben

Sechs Jahre Pirna sind genug. Die Familie Sendilmen ist wegen ständiger rechtsextremistischer Übergriffe, Pöbeleien und Bedrohungen nach Berlin gezogen.

Die fünfköpfige türkische Familie Sendilmen lebt beengt in einer Zweizimmerwohnung in Berlin-Wedding. Selda, der 21jährigen Tochter, merkt man die Erleichterung an, nach sechs Jahren in Pirna hierher gekommen zu sein, in eine Umgebung, die alles andere als idyllisch ist. Jetzt könne sie wieder ruhig schlafen und abends mit ihrem Vater spazieren gehen, »ganz ohne Angst«. In Berlin sprächen die Leute auf der Straße mit ihr. Neulich habe ihr sogar eine Frau in der U-Bahn Mut gemacht, die gerade einen Zeitungsartikel über die Sendilmens las und der sich Selda zu erkennen gab. Dass es so etwas in Deutschland noch gibt, hatte die Familie in Pirna schon fast vergessen.

Mit dem Umzug der Sendilmens ist Pirna, die kleine Stadt bei Dresden, dem Zustand der »national befreiten Zone« wieder einen Schritt näher gekommen. Wer dort in den letzten Monaten nach Hinweisen auf Zivilcourage und Toleranz suchte, fand Ladenschilder mit der Aufschrift »Ausländer haben hier zu warten!« oder konnte Skinheads beim »friedlichen Spaziergang« beobachten. Nach Berichten der Dresdner Neuen Nachrichten sind allein seit Mitte April in Pirna und Umgebung 28 Jugendliche zu Opfern rechter Gewalt geworden.

Die Geschehnisse um die türkische Familie sind bezeichnend für die Verhältnisse in der Stadt. Die Sendilmens versuchten dort mehr als sechs Jahre lang, einen Döner-Imbiss zu unterhalten und sich nicht von den täglichen Bedrohungen und Angriffen der Neonazis einschüchtern zu lassen. Für die Verteidigung ihrer Existenz aber wurden sie von der Staatsanwaltschaft Dresden angeklagt. Im März begann der Prozess, acht Fälle von gefährlicher gemeinschaftlicher Körperverletzung werden der Familie vorgeworfen. Die Sendilmens sollen auf Rechtsextreme losgegangen sein, die sich vor ihrem »Antalya Grill« versammelt hatten, darunter einige mutmaßliche Mitglieder der neonazistischen Skinheads Sächsische Schweiz (SSS). Die Verhandlung ist derzeit unterbrochen.

Aber am vorigen Mittwoch begann ein weiteres Verfahren gegen den Vater und einen der Söhne, denen vorgeworfen wird, zwei Jugendliche »grundlos« verprügelt zu haben. Ein rechtsextremer Hintergrund dieses Sachverhalts wird bislang von den Anklägern geleugnet.

Kein Thema ist es in der sächsischen Idylle, dass die Neonazis systematisch gegen die türkische Familie vorgingen. Sie beobachteten die Umgebung und die Kundschaft, schossen Fotos und zogen täglich pöbelnd an dem Laden vorbei. Die türkische Familie sollte endlich verschwinden. Das haben sie jetzt erreicht. Die Sendilmens waren in der Stadt auf sich allein gestellt. Von wem sollten sie Hilfe erwarten in einer Region, von der selbst der ehemalige Polizeichef Pirnas, Helmar Leo Blech, sagt, dass der »Rechtsextremismus hier aus der Mitte der Gesellschaft kommt«?

Doch nun stehen nicht etwa die »Verhältnisse in Pirna, die Söhne Pirnas, die Fremdenfeindlichkeit bzw. die Angst und das Recht, sich zu verteidigen, wenn niemand anderes einen schützt«, wie die Anwältin Christina Clemm treffend zusammenfasst, im Mittelpunkt des Verfahrens, sondern die Vorwürfe gegen die Familie. Jeden noch so kleinen Schmerz, den die Familie den zarten Skinheads in ihrer Not angeblich zugefügt haben soll, bauschte die Anklage zu einem Amoklauf mit gewetzten Dönermessern auf (Jungle World, 13/2002).

Dass vor allem die Mutter Verletzungen durch mehrere Naziüberfälle davongetragen hat, stand in der juristischen Betrachtung des Sachverhaltes ebenfalls noch nicht zur Debatte. Anfang des Jahres wurde Frau Sendilmen von Skins am Bein verletzt, war sechs Wochen bettlägerig und erlitt eine Thrombose, die gesundheitliche Schäden hinterlassen hat.

Jahrelang wurde die Familie immer wieder zum Opfer solcher Übergriffe und musste erfahren, dass die örtliche Polizei entweder gar nicht oder nur mit skandalöser Verspätung auf ihre Hilferufe reagierte. Absurd klingt auch die Version des Tathergangs, nach der eine Gruppe von 15 Skins »friedlich« durch die Straße der Sendilmens flanierte und von der damals 18jährigen Selda und ihrer Familie durch die halbe Stadt gejagt worden sein soll.

Selda berichtet, sie habe in den letzten fünf Jahren in Pirna aus Existenzangst keinen einzigen Spaziergang mehr unternommen. Über Jahre konnte sie vor Angst kaum noch Schlaf finden. Ihr Leben spielte sich fast ausschließlich im elterlichen Imbiss und in der darüber gelegenen Wohnung ab. Deutsche Freunde habe sie in Pirna nicht gewinnen können. Zuletzt kam auch keine Kundschaft mehr zum »Antalya Grill«.

Das laufende Gerichtsverfahren empfindet Selda als Hohn, da nicht ihre Peiniger, sondern sie selbst und ihre Familie auf der Anklagebank sitzen. Der Verteidiger Ulrich von Klinggräff äußert sich empört über die Strategie der sächsischen Behörden, den rechtsextremen Hintergrund des Verfahrens herunterzuspielen. Ein Beweis für die Verharmlosung sei der irrwitzige Versuch des Landgerichts Dresden gewesen, den Fall an einem einzigen Verhandlungstag mit maximal 15 Minuten Verhörzeit pro Zeuge zu erledigen. Man tat so, als handele es sich um eine Lappalie, um einen langwierigen Indizienprozess zu vermeiden, so Klinggräff.

Dass der Fall nicht nur die Dominanz der SSS und damit die vorhandene neonazistische Bedrohung in der Gegend deutlich macht, sondern auch katastrophale Versäumnisse der örtlichen Polizei und der Pirnaer Öffentlichkeit dokumentiert, soll gar nicht erst publik werden. Denn Pirna hofft auf den Wirtschaftsfaktor Tourismus.

Klinggräff ist optimistisch, was den Prozess angeht. In Erwartung zurückgehaltener Akten der Dresdner Staatsanwaltschaft rechnet er mit der Möglichkeit, die nach seiner Auffassung fast ausschließlich in der SSS organisierten Zeugen als Nazis zu enttarnen. Man wolle Beweise sammeln, die das Gericht »zwingen werden, zur Kenntnis zu nehmen, von welchem Kaliber diese Männer sind und dass sie alle lügen, bis sich die Balken biegen«. Klinggräff prophezeit damit den langen Prozess, den Pirna gerne schon beendet sähe.

Das Bedauern des Oberbürgermeisters Markus Ulbig (CDU), der die Flucht der Sedilmens nach Berlin zuletzt mit den Worten kommentierte, die Vorgänge der letzten Monate seien von »Provokationen, Intoleranz und beidseitiger Gewaltbereitschaft« geprägt gewesen, bezeichnet der Anwalt als »die übliche Nummer« der Verharmlosung, die in ihrer perfiden Wendung gegen die aus der Stadt vertriebenen Sendilmens bereits eine weitere »dreiste Frechheit« darstelle.

Die Familie weiß noch nicht, wie es in Berlin weitergehen soll. Ein neuer Döner-Imbiss komme nicht mehr in Frage. Die Familie wolle »endlich ein normales Leben führen«, sagt Selda. Nach einem Aufenthalt in der Türkei wollen die Sendilmens versuchen, »in die Zukunft zu blicken«. Bloß nicht zurück in die Vergangenheit.