Der Fall Racak vor dem Kriegsverbrechertribunal

Zeugen der Anfrage

Das Haager Tribunal will das angebliche Massaker von Racak rekonstruieren. Kritische Aussagen sind nicht erwünscht.

Helena Ranta war natürlich nicht geladen worden. Und auch auf die Kollegen der finnischen Pathologin, die Anfang letzten Jahres in der niederländischen Fachzeitschrift Forensic Science International einen Bericht über die Autopsie von 40 im Januar 1999 in der kosovo-albanischen Ortschaft Racak gefundenen Leichen veröffentlicht hatten, wartete man vergeblich.

Daran, dass der französische Journalist Christoph Châtelot den Zeugenstand des Gerichtssaals in Den Haag betreten würde, war ohnehin nicht zu denken. Der Reporter befand sich am Tag des vermeintlichen Massakers von Racak in der kleinen Ortschaft und hatte danach als erster die Fragen gestellt, die im Prozess gegen den früheren jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic in der vorigen Woche peinlich vermieden wurden.

»Warum so wenig Patronen rund um die Leichen, so wenig Blut in jener Senke, wo doch angeblich 23 Menschen aus nächster Nähe mit mehreren Kopfschüssen getötet worden sein sollen?«, schrieb er damals in Le Monde. »Waren nicht vielleicht die Körper der in den Kämpfen mit der Polizei getöteten Albaner in dem Graben zusammengetragen worden, um ein Horroszenario zu schaffen, das mit Sicherheit einen entsetzlichen Effekt auf die öffentliche Meinung haben würde?«

Tatsächlich wirkte das angebliche Massaker in Racak wie kein zweites Ereignis vor dem Nato-Bombardement. Der US-amerikanische Leiter der OSZE-Mission im Kosovo, William Walker, konstatierte noch am Tag des Leichenfundes einen serbischen Massenmord. »Natürlich war die Episode in Racak entscheidend für die Bombardierungen«, erklärte er später.

Und schon am 17. Januar 1999, am Tag nach Walkers Besuch in Racak, verkündete US-Präsident Bill Clinton: »Das Massaker ist eine klare Verletzung der Verpflichtungen, die serbische Stellen gegenüber der Nato eingegangen sind.« Zwei Monate nach dem Kriegsbeginn am 24. März schließlich befand der deutsche Außenminister Joseph Fischer in der Zeit: »Racak war für mich der Wendepunkt.«

Wohl nicht zuletzt wegen seiner enormen propagandistischen Wirkung fand der bis heute ungeklärte Hergang der Ereignisse in dem kosovo-albanischen Dorf bereits im Mai 1999 Eingang in die Klage des Uno-Kriegsverbrechertribunals gegen Slobodan Milosevic - obwohl die Ermittler der Vereinten Nationen die Ortschaft bis dahin nie gesehen hatten. Erst nach dem Ende des Kosovo-Krieges im Juni 1999 erhielten sie Zugang zu der jugoslawischen Provinz.

In der vergangenen Woche schließlich lud die Chefanklägerin Carla del Ponte hochrangige Zeugen der OSZE, Menschenrechtler und Augenzeugen der Auseinandersetzungen nach Den Haag, die den Tathergang rekonstruieren sollten.

Doch die finnische Gerichtsmedizinerin Helena Ranta, die im Auftrag der EU-Kommission und der OSZE wenige Tage vor dem Beginn des Nato-Bombardements einen ersten Autopsiebericht vorgelegt hatte, der keine Hinweise auf ein Massaker an Zivilisten enthielt, fehlte ebenso wie die serbischen und weißrussischen Pathologen, die nach der Untersuchung der Leichen erhebliche Zweifel an der offiziellen Version geäußert hatten.

Stattdessen pickte sich das Gericht kritischer Nachfragen unverdächtige Opfer des Geschehens heraus oder Mitglieder der OSZE-Beobachtermission, die keine Widersprüche zur Darstellung ihres Chefs William Walker anzumelden hatten.

So beharrte der kanadische General Michel Maisonneuve darauf, dass es sich um ein Massaker serbischer Einheiten an kosovo-albanischen Zivilisten gehandelt habe, obwohl auch er nicht erklären konnte, weshalb die Angaben über die Zahl der in einer Senke am Ortsrand von Racak gefundenen Leichen bis heute zwischen 40 und 45 schwanken. Walker hatte bei seinem Eintreffen an der heute nach ihm benannten Fundstätte von 45 Exekutierten gesprochen, die OSZE-Mitarbeiter kamen jedoch auf 40 Leichen.

Bereits die Anklageschrift bleibt in diesem Punkt äußerst vage. »Am oder um den 15. Januar 1999, in den frühen Morgenstunden, wurde das Dorf Racak (Gemeinde Stimlje/Shtime) von Sicherheitskräften der Bundesrepublik Jugoslawien und Serbiens überfallen«, heißt es da. »Dorfbewohner, die vor der serbischen Polizei zu fliehen versuchten, wurden überall im Dorf erschossen. Eine Gruppe von etwa 25 Männern versuchte, sich in einem Gebäude zu verstecken, wurde aber von der serbischen Polizei entdeckt. Sie wurden zusammengeschlagen und dann zu einem nahe gelegenen Hügel gebracht, wo sie von den Polizisten erschossen wurden. Insgesamt töteten die Sicherheitskräfte der Bundesrepublik Jugoslawien und Serbiens ungefähr 45 Kosovo-Albaner in und um Racak.«

Doch nicht nur der Versuch der Anklage, die widersprüchlichen Zeugenaussagen und Untersuchungsberichte, die zum Fall Racak in den vergangenen drei Jahren zusammengekommen sind, in dem Völkermordprozess gegen Milosevic auszublenden, fiel unangenehm auf. Auf ausgewogenere Aussagen als die des kanadischen Generals Michel Maisonneuve oder seines britischen Kollegen Karol Drewienkiewicz, der ebenfalls an der Massaker-These festhielt, wartete man in der vorigen Woche vergeblich.

Dabei hatte der Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina, Paddy Ashdown, noch im April in Den Haag die Kosovo-Befreiungsarmee UCK als »destabilisierenden Faktor« bezeichnet. Bei der Beantwortung der Frage aber, ob die Toten von Racak wehrlose tötet wurden, oder aber Kämpfer der UCK, die bei Feuergefechten starben, spielte das keine Rolle.

Juristische Probleme könnte der Chefanklägerin del Ponte allerdings noch die Tatsache bereiten, dass die Indizien für die von ihr behauptete bis nach Belgrad reichende Befehlskette mehr als vage sind. So sollen dem britischen General Drewienkiewicz zufolge die Offiziere vor Ort ihre Anweisungen vom damaligen stellvertretenden Premierminister Serbiens, Nikola Sainovic, erhalten haben.

Auch der in Serbien wegen geheimer Zusammenarbeit mit dem Tribunal vorübergehend festgenommene Ratomir Tanic, der von 1995 bis 1998 die Verhandlungen zwischen der Regierung in Belgrad und Vertretern der Demokratischen Liga des Kosovo (LDK) Ibrahim Rugovas leitete, behauptete das, jedoch ohne die entsprechende Beweise liefern zu können.

Die Strategie der Anklage, nur jenen Zeugen zu glauben, die sie selbst bestellt hat, bereitete dem Vorsitzenden Richter Richard May jedenfalls einige Probleme. Immer wieder musste er Milosevic unterbrechen, der die Zeugen durch geschickte Nachfragen auf Widersprüche in ihren eigenen Aussagen hinwies. Bis May der Geduldsfaden riss: »Wir gestatten Ihnen, dieses Kreuzverhör fortzuführen, aber nur unter einer Bedingung: dass Sie kurze Fragen stellen.«