Putschgerüchte

Neuer Coup, neues Glück?

In Venezuela kursieren Putschgerüchte, und die politische Radikalisierung nimmt überall zu.

Mit Papierblumen, Transparenten und einem Schrein ist die Brücke Llagano über die Avenida Baralt geschmückt. Fast immer stehen einige Leute an der improvisierten Kultstätte und diskutieren über die Ereignisse des 11. April. Wer waren die Heckenschützen, wer hat den Schießbefehl erteilt? Doch auf diese Fragen gibt es auch weit über einen Monat nach den Schüssen, die 20 Personen töteten und den Anlass für einen gescheiterten Putschversuch gegen Präsident Hugo Chávez darstellten, keine Antworten.

Im Parlament geben Abgeordnete ihre Sicht der Dinge wieder, doch zur Aufklärung haben die live im Fernsehen übertragenen Reden wenig beigetragen. Und auch die Untersuchungsbehörden konnten bisher keine handfesten Ergebnisse vorlegen, obgleich Bilder der Heckenschützen immer wieder in den Medien zu sehen sind.

Über 100 000 Menschen waren es Ende Mai, die erneut durch die Straßen von Caracas zogen und den Rücktritt des Generalstaatsanwalts Isaias Rodriguez forderten. Rodriguez, ehemaliger Vizepräsident der Regierung, gilt als Mann des Präsidenten Hugo Chávez und ist deshalb in den Augen der Demonstranten nicht der geeignete Mann, um die Ermittlungen zu den blutigen Vorfällen rund um den 11. April zu leiten.

Dem Generalstaatsanwalt wird vorgeworfen, mehr mit der Vertuschung der Vorfälle beschäftigt zu sein als mit deren Aufklärung. Rodriguez hatte in die laufenden Ermittlungen eingegriffen, indem er die Staatsanwälte, die mit den ersten Ermittlungen betraut waren, im April durch neue ersetzte. Festnahmen wurden rückgängig gemacht, wodurch sich die Vertuschungsgerüchte vermehrten.

Auch der Streit um die Einberufung einer Wahrheitskommission und deren Besetzung habe die von Chávez zumindest verbal angestrebte Versöhnung nicht gerade beflügelt, meint Pablo Fernández vom Red de Apoyo por la Justicia y la Paz. Die Menschenrechtsorganisation plädiert für eine internationale Wahrheitskommission, um den Ereignissen rund um den 11. April auf den Grund zu gehen. Für Fernández sind die Meinungen in Venezuela zu sehr polarisiert, um zu einer Einigung zwischen der Opposition und der Regierung über die personelle Besetzung der Kommission zu kommen. Beide Seiten versuchen, ihre jeweilige Version der Ereignisse vom 11. April zu verbreiten, und beide radikalisieren sich dabei immer stärker.

Das belegen auch Umfragen der Agentur Dataanalisis, die den Anteil derjenigen, die auch zur Waffe greifen würden, um den politischen Gegner zu bekämpfen, mit 15 Prozent auf beiden Seiten angibt. Den Umfrageergebnissen zufolge ist die Gesellschaft gespalten: 49 Prozent der Bevölkerung votieren für den Präsidenten und die gleiche Prozentzahl ist gegen ihn.

Demzufolge hat Chávez zwar durch den Putsch an Popularität gewonnen und kann seine Anhängerschaft wesentlich besser mobilisieren als noch zu Beginn des Jahres, aber die beiden Seiten stehen sich unversöhnlich gegenüber. Der nationale Konsens, für den sich Chávez nach seiner Rückkehr in den Präsidentenpalast Miraflores ausgesprochen hat, ist in weite Ferne gerückt.

Zwar gab es Gespräche mit dem neuen Präsidenten des Unternehmerverbandes Fedecámaras, und auch mit den Medien des Landes haben sich Regierungsvertreter an einen Tisch gesetzt, um Unstimmigkeiten auszuräumen. Doch konkrete Ergebnisse sind bisher ausgeblieben, erklärt Carmen Beatrix Fernández, eine Politikwissenschaftlerin in Diensten des Forschungsinstituts Fundación Justicia y Democracia. »Die Medien haben in den letzten Wochen viel Kredit bei der Bevölkerung verloren, weil sie zu politischen Akteuren geworden sind, statt ihrem Informationsauftrag gerecht zu werden.«

Diesen Vorwurf will der Chefredakteur der angesehenen Tageszeitung El Nacional, Miguel Hernández Otero, nicht auf sich sitzen lassen, denn seinen Reportern sei die Arbeit am 12. und 13. April unmöglich gemacht worden. »Wir konnten nicht erscheinen, weil wir nicht drucken konnten«, sagt Otero. Auf das Verlagsgebäude war geschossen worden, die Drucker und auch zahlreiche Journalisten hatten das Gebäude verlassen, während einige die Internetseite der Zeitung mit Informationen von CNN und dem kolumbianischen Sender Caracol aktualisierten. Beide sendeten im Gegensatz zu den venezolanischen Stationen aktuelle Informationen und zeigten, was sich in den Straßen von Caracas abspielte.

Dass die ausländischen Reporter arbeiten konnten und die einheimische Berichterstattung nur ausnahmsweise stattfand, ist allerdings nicht nur mit der Angst vor Übergriffen militanter Chávez-Anhänger zu erklären. So steckte Gustovo Cisneros, der Besitzer des Fernsehkanals Venevision TV, mit den Putschisten um den Interimspräsidenten Pedro Carmona unter einer Decke. Ein Grund, weshalb sein Sender dem Publikum Walt-Disney-Produktionen statt Demonstrationen zur Unterstützung Chávez' vor dem Präsidentenpalast servierte, in dem Carmona festsaß?

Carmona, der gemeinsam mit den Gewerkschaften die Regierung Chávez ins Wanken gebracht hatte, floh Ende Mai zunächst in die kolumbianische Botschaft und suchte politisches Asyl, anschließend flog er nach Kolumbien. Einen fairen Prozess könne er in Caracas nicht erwarten, so seine Begründung.

Das ist nicht ausgeschlossen. Neuerliche Putschgerüchte kursieren in Caracas, klandestine Gruppen innerhalb des Militärs veröffentlichten Anfang Juni drohende Kommuniqués gegen Chávez. Zusätzlich zur politischen Krise bahnt sich eine wirtschaftliche an. Der neue Finanzminister Tobías Nóbrega hat bereits neue Sparprogramme angekündigt, um das Haushaltsdefizit abzubauen. Neue Kredite kann Venezuela auf dem internationalen Markt derzeit kaum bekommen, denn sie seien zu teuer, erklärt Carmen Beatrix Fernández. Sie sieht Venezuela trotz hoher Erdöleinnahmen auf eine Finanzkrise zusteuern, die Präsident Chávez vor weitere Probleme stellen dürfte.

Sie macht die ineffiziente Administration für eine beträchtliche Verschwendung in der dreijährigen Amtszeit von Präsident Chávez verantwortlich. Über 66 Milliarden US-Dollar konnte die Regierung zwischen 1999 und 2001 an Erdöleinnahmen verzeichnen.

Doch gerade im sozialen Bereich, der Hugo Chávez nach eigenen Angaben so wichtig ist, sind kaum Verbesserungen eingetreten. Im Human Development Index der Vereinten Nationen, der die Sozialindikatoren stark berücksichtigt, fiel Venezuela von Platz 46 auf Rang 61. Eine vernichtende Bilanz für einen Präsidenten, der angetreten ist, um die Armut in einem der rohstoffreichsten Länder Lateinamerikas zu besiegen.