Gilberto Gils »Gya N'Gan Daya«

Der Kämpfer

Gilberto Gil ist der größte Star Südamerikas. Bob Marley war der größte Star des Reggae. Auf dem Album »Kaya N'Gan Daya« verneigt sich der eine vor dem anderen.

Man erzählt sich viele Geschichten über Gilberto Gil. Eine davon ist diese: Nachdem der brasilianische Sänger in den Siebzigern von der Militärdiktatur wegen allzu freier Gedanken erst ins Gefängnis und dann ins Exil geschickt worden war, hatte er in London eine folgenschwere Begegnung. Er traf Bob Marley. In dieser Begegnung lag eine spirituelle Kraft, und davon im Innersten bewegt, kehrte Gil später in seine Heimat zurück. Dort spielte er sofort eine Coverversion von »No woman no cry« - »Não chore mais« (»Höre auf zu weinen«) - ein. Mit dem von Marley übernommenen Protestsong hauchte er den Brasilianern den Geist des Widerstandes ein. Einen Geist, durch den das Militärregime so sehr unter Druck geriet, dass es wenige Jahre später freie Wahlen erlaubte. Bob Marley und Gilberto Gil sei Dank.

Die Brasilianer sind große Geschichtenerzähler, wenn es um ihre Helden geht. Die obige wird besonders gerne erzählt, seit Gil sein neues Album »Kaya N'Gan Daya« veröffentlicht hat. Es ist eine Compilation mit von ihm gesungenen Marley-Songs und schon das 42. Album in seiner Karriere. Dummerweise ist die eingangs kolportierte Geschichte, wie Gilberto Gil im Gespräch selbst klarstellt, jedoch eine glatte Lüge. »Ich habe Bob Marley nie persönlich getroffen, leider«, sagt er, »ich weiß auch nicht, wie die Geschichte entstanden ist. Ich habe immer nur seine Musik gehört. Einmal war ich auf einem Marley-Konzert in Los Angeles. 1980 muss das gewesen sein. Als es zu Ende war, bin ich in den Backstage-Bereich gerannt, um ihn endlich zu treffen. Aber da war er schon verschwunden.« Ein anderes Mal spielte der jamaikanische Reggaestar in Rio de Janeiro. Zu der Zeit sei er selbst allerdings in seiner Heimat im Norden gewesen, in Salvador da Bahia, erinnert sich Gil. Sie hat also in Wahrheit nie stattgefunden, die legendäre Begegnung, in der eine spirituelle Kraft gelegen haben soll.

Doch das ändert nichts an der Bedeutung von »Não chore mais«. »Für Brasilien war es ein politischer Song«, erzählt Gilberto Gil, der eben genau in dem Moment auftauchte, in dem die Diktatur in seinem Land zu wackeln begann. »Wir waren an der Grenze zu etwas Neuem. Der Song half, dieses Gefühl stark zu machen, das Gefühl, etwas Neues aufbauen zu müssen.«

André Midani, Freund von Gil und zeitweise Mitglied in seiner Band, kann sich gut an diesen Moment erinnern. Er begleitet den heute 60jährigen Gilberto Gil seit 35 Jahren und muss an ein Konzert im Jahr 1979 in Bahia zurückdenken. Er stand damals auf dem Rasen des Stadions Fonte Nova. »40 000 Menschen drängelten sich hinein, um Gilberto zu sehen - und vor den Türen standen wohl noch mal genauso viele.« Plötzlich hätten alle angefangen zu singen, draußen und drinnen - »Não chore mais«. Und dann erzählt Midani, in dem eine brasilianische Seele lebt, dass er in diesem Augenblick weinen musste.

Es versteht sich, dass »Não chore mais« auch auf »Kaya N'Gan Daya« zu finden ist. Es versteht sich auch, dass uns Europäer dieses Stück nur erreicht, wenn wir von dessen politischer Relevanz wissen. Klingt es doch für uns zunächst nach nicht mehr als nach einem guten, aber auch glatten Stück Pop mit einem süffisanten Streicherarrangement sowie Gils heller und leicht gebrochener Stimme. Und aus dem Hintergrund erklingen die I-Threes, die ehemaligen Background-Sängerinnen Bob Marleys.

Das Besondere an »Kaya N'Gan Daya« erkennt man, wenn man versteht, was die beiden Musiker Gil und Marley miteinander verbindet. »Seine Musik war in jeder Hinsicht bedeutend für mich«, sagt Gil. »Die ganze Rastafari-Bewegung, ihre Message, die Religion, die hinter Marleys Musik stand. Und natürlich der Protest gegen die Ungerechtigkeit, dieses musikalisch-hypnotische Wachrütteln, damit die Menschen etwas tun.« Das sei genau das, was speziell damals auch seine eigene Musik ausgemacht habe. Und ihn ins Gefängnis brachte.

Gilberto Gil ist Ende der Sechziger der Kopf einer musikalischen Bewegung in Brasilien gewesen, des Tropicalismo. Ihr lag eine bemerkenswert einfache Idee zugrunde: Alles gehört zusammen. Jede vergessene Tradition, jeder Stil, jedes Instrument in Brasilien. So schweißte Gil tatsächlich mit seiner Musik das Land zusammen, gemeinsam mit Caetano Veloso, Rita Lee und anderen, und deshalb sperrte das Regime den oppositionellen Sänger 1969 zunächst ein und verwies ihn später des Landes.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Gil schon vier Alben aufgenommen. 1962 war er zum ersten Mal auf einem Tonträger zu hören - auf der Rückseite einer unbeachteten Single mit dem Titel »Povo Petroleiro«. Gil hat es danach vom ganz Kleinen zum ganz Großen gebracht, von den dörflichen Marktplätzen in die großen Arenen. Aufgewachsen im bahianischen Hinterland und zwischen den Fronten der Violeiros, blinden Sängern und Gitarrenspielern, die sich auf Marktplätzen musikalische Duelle lieferten, kamen in Brasilien schon bald Zehntausende zu seinen Konzerten. Mit seinem Album »Nightingale« schaffte er 1979 auch den Durchbruch in Europa und den USA - ausgerechnet mit seinem kitschigsten und poppigsten Werk.

Heute gilt Gilberto Gil als erfolgreichster Musiker Südamerikas, und sein musikalisches Werk hat für den Kontinent ein Gewicht, wie es etwa »Sergeant Pepper's Lonely Hearts Club Band« für die westliche Welt hat. Gil ist nicht nur irgendein Star aus der vermeintlichen Randsparte »Weltmusik«. Spätestens mit seinem Unplugged-Gig auf MTV vor acht Jahren ist er das nicht mehr.

»Der Kampf ist es, der Reggae und mich verbindet«, sagt Gil mit Blick auf seine Geschichte. Auch wenn »Kaya N'Gan Daya« kein bisschen kämpferisch klingt und es ihm bei diesem Coverversionen-Projekt weniger um den Kämpfer Marley, als um den Musiker geht. Auf »Kaya«, dem Album, das Bob Marley 1978 veröffentlichte und dessen Titel auch in Gils Albumnamen eingeflossen ist, erscheint Marley eben vor allem als großartiger Musiker. »ðKayaÐ ist eines der Alben, die ich am meisten liebe«, sagt er. Dass es als zu soft und zu kommerziell kritisiert wurde, basiert, wie er findet, auf einem Missverständnis. »Der Vorwurf kommt daher, dass alle von Marley geglaubt haben, er hätte als Musiker auch immer eine Waffe in der Hand, er wäre immer der Querdenker, immer Revolutionär. Aber so war er natürlich nicht die ganze Zeit. Auf ðKayaÐ hatte er keine Waffe. Nur wollte ihn so keiner hören.«

Gils Arbeit ist vor allem eine Verneigung vor einem, den er als Seelenverwandten beschreibt. Bob Marley ist auf diesem Album nicht neu zu entdecken. Seine Stücke sind nicht neu interpretiert. Sie sind nur von einem der wichtigsten südamerikanischen Musiker um ein brasilianisches Element bereichert worden.

Gilberto Gil: »Gaya N'Gan Daya«, WEA
Tourdaten: 7. Juli Berlin, 14. Juli Bonn, 16. Juli Hamburg, 18. Juli München