Polizeigewalt in Argentinien

Schüsse auf die Piqueteros

Zwei tote Arbeitslose markieren den Übergang der argentinischen Regierungspolitik in eine autoritäre Phase.

Am vergangenen Mittwoch hat mit der Erschießung von zwei arbeitslosen Demonstranten durch die argentinische Polizei die staatliche Repression ein Ausmaß angenommen, das an den Dezember letzten Jahres erinnert. Damals trommelte die argentinische Bevölkerung angesichts der anhaltenden Wirtschaftskrise und der Sperrung der Bankkonten die Regierung von Fernando de la Rúa aus dem Amt. 27 Menschen kamen damals bei den Protesten ums Leben.

Auch sechs Monate später gehören Massendemonstrationen und die Straßenblockaden der organisierten Arbeitslosen, der »Piqueteros«, in Argentinien zum Alltag. Die wirtschaftliche Misere lässt ahnen, warum. Schon die offizielle Statistik geht von mindestens 30 Prozent Arbeitslosen aus, die Hälfte der Argentinier lebt in Armut und hat Probleme, den täglichen Bedarf an Nahrungsmitteln zu beschaffen. Den »Piqueteros«, die sich vor allem für eine soziale Grundsicherung und für Beschäftigungspläne einsetzen, wurden bisher zwar von der neuen peronistischen Regierung keine nennenswerten Zugeständnisse gemacht, aber sie wurden zumindest geduldet.

Es hatte sich einiges zusammengebraut. Immer häufiger hatten sich Regierungsvertreter dafür ausgesprochen, härter gegen Demonstranten vorzugehen. Und Außenminister Carlos Ruckauf hatte am 20. Juni auf einer Versammlung der Streitkräfte davon gesprochen, dass schwierige Zeiten auf Argentinien zukämen, die es nötig machen könnten, die Streitkräfte auch im Innern einzusetzen. 1975 war Ruckauf noch unter Isabel Peron Innenminister gewesen und hatte ein Dekret unterschrieben, das den Einsatz der Armee im Innern ermöglichte und den Weg zum Militärputsch von 1976 ebnete.

Der Journalist Miguel Bonasso von der Tageszeitung Página 12 will gar von einem Richter erfahren haben, dass der Einsatz von Schusswaffen am 26. Juni auf der blockierten Brücke Pueyrredón am südlichen Stadtrand bereits zuvor geplant wurde.

Tatsächlich wurde die Blockade einer von fünf Zufahrtsstraßen in die Hauptstadt von der Polizei mit Tränengas und Gummigeschossen brutal gesprengt. Die meisten Demonstranten versuchten, sich in benachbarte Straßen oder in das Gebäude des nahe gelegenen Bahnhofs Avellaneda zu retten. So auch Javier Medina, der sich inmitten der flüchtenden Menge befand, als sich mehrere Polizisten ihm näherten. »Ich rannte weiter«, berichtet er, »dann spürte ich einen heftigen Schlag auf den Rücken.« Tatsächlich wurde Medina in diesem Moment angeschossen. Derzeit befindet er sich im Krankenhaus der Provinzstadt Lanús und hat seine Zeugenaussagen bereits an die Argentinische Liga für Menschenrechte weitergeleitet.

Doch es ist nicht sicher, ob alle Verletzten überhaupt das Glück hatten, in ärztliche Behandlung zu kommen. Die linke Initiative »Colectivo Situaciones« spricht jedenfalls von vielen Demonstranten, die bis zum Wochenende noch gar nicht in ihre Häuser zurückkehren konnten, da die Verfolgungen durch die Polizei anhielten. Außerdem sind mindestens 160 Personen immer noch im Polizeigewahrsam. »Die Repression, ob legal oder illegal, dient direkt dazu, die vernetzte Bewegung, von der die ðPiqueterosÐ ein besonders starker Teil sind, als ganze anzugreifen«, erklärt die Gruppe.

Auch große Teile der argentinischen Bevölkerung scheinen das so zu sehen. Am vergangenen Donnerstag versammelten sich etwa 15 000 Menschen auf der Plaza de Mayo vor dem Regierungsgebäude. Sie folgten dem Aufruf mehrerer Arbeitslosen- und Rentnerorganisationen, der Gewerkschaft CTA und der »Asambleas Populares«, der Nachbarschaftsversammlungen im Land. Sie verlangten wiederholt die Aufklärung der Vorfälle und vor allem den Rücktritt Duhaldes und vorgezogene Neuwahlen. Seine reguläre Amtszeit dauert bis Ende 2003. Der Präsident wies diese Forderungen zwar zurück, wurde jedoch im Laufe der letzten Tage dazu gezwungen, seine Taktik des »Aussitzens« der Ereignisse zu ändern und die verantwortlichen »Einzeltäter« bei der Provinzpolizei anzuklagen.

Am Mittwochabend versuchte die Staatsführung zunächst, mit allgemeinen Floskeln über »die schrecklichen Vorkommnisse« ihren »Kummer« zu bekunden. Duhaldes Staatssekretär für innere Sicherheit, Juan José Alvarez, bemerkte aber ebenfalls: »Sechs Monate sind wir sehr umsichtig beim Einsatz der Sicherheitskräfte vorgegangen.«

Konnte man da bereits erahnen, was geschehen war, wusste man zwei Tage später Bescheid. Mehrere argentinische Tageszeitungen veröffentlichten Fotos, auf denen zu sehen war, wie Polizisten einen später tot aufgefunden Demonstranten mit Schusswaffen verfolgten. Am Wochenende tauchten zudem Videoaufnahmen auf, die zeigen, wie als »Piqueteros« verkleidete Polizisten sich als Provokateure bei der vorher friedlichen Straßenblockade betätigten; ein Zivilpolizist benutzte gar eine Schusswaffe.

Duhalde und der Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Felipe Solá, waren somit gezwungen, die Flucht nach vorn anzutreten. Einige Polizisten wurden festgenommen, der Präsident der Provinzpolizei, Ricardo Degastaldi, trat am vergangenen Freitag, der Minister für Innere Sicherheit der Provinz, Luis Genoud, einen Tag später mehr oder weniger freiwillig zurück. Auf einer Pressekonferenz verkündete Solá, dass die Probleme mit der Polizei nur zu lösen seien, »wenn immer mehr zivile Macht eingesetzt« werde. Duhalde verkündete am Samstag vergangener Woche, es werde keine Straffreiheit geben, fügte aber hinzu: »Sobald solche Dinge passieren und ein Mann sich so schlecht benimmt, wird jedes Mal die gesamte Polizei verurteilt.«

Diese Aussagen können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Regierung Duhalde sich an ihrer Macht festklammert. Nur durch das Parlament, nicht aber durch Wahlen legitimiert, besaß sie zu keinem Zeitpunkt die Unterstützung der argentinischen Bevölkerung. Ihr einziges politisches Projekt, bald neue Kredite vom Internationalen Währungsfonds für das zahlungsunfähige Land zu bekommen, scheint nach dem Rücktritt des Zentralbankchefs und ehemaligen IWF-Funktionärs Mario Blejer am Anfang letzter Woche unwahrscheinlicher denn je. Erst kürzlich gab der IWF-Direktor Horst Köhler nach einem Treffen mit dem argentinischen Wirtschaftsminister Rudolfo Lavagna in Washington zu bedenken, dass Argentinien grundlegende Forderungen des Fonds noch nicht erfüllt habe. Die Frage, wann das nächste Mal eine Verhandlungsdelegation nach Buenos Aires reist, ließ er offen.

Doch auch im Staatsapparat gerät der Präsident unter Druck. Mehrere peronistische Senatoren setzten sich vor kurzem von Duhalde ab und stellten öffentlich seine Legitimität in Frage. Auch die überparteiliche Unterstützung des Präsidenten schwindet zusehends. Die größte Oppositionspartei Unión Cívica Radical (UCR), die bis zum vergangenen Dezember die Regierung stellte, ist tief gespalten. Der Befürworter und eigentliche Initiator eines großen Bündnisses zur Unterstützung Duhaldes im Parlament, der führende Kopf der Radikalen und frühere Präsident, Raúl Alfonsín, trat in der letzten Woche von seinem Senatorenposten zurück.

Möglich, dass sich die UCR anderen Oppositionsparteien, allen voran der linksliberalen Ari, annähert und vielleicht erneut ein Mitte-Links-Bündnis für wann auch immer stattfindende Wahlen anstrebt. Die Präsidentschaftskandidatin der Ari, Elisa Carrió, erklärte der Tageszeitung Pagina 12 harsch: »Wir treten in die autoritäre Phase des Regimes ein.« Ungeklärt ist auch, ob Luis Zamora von der Vereinigten Linken als möglicher Präsidentschaftskandidat antreten wird, dem als einzigem auch Unterstützung aus der außerparlamentarischen Protestbewegung zuteil wird.

Dafür taucht ein Gespenst wieder auf: der Peronist Carlos Menem, von 1989 bis 1999 Präsident der Republik und Durchpeitscher neoliberaler Programme, deren Folgen sich heute überdeutlich abzeichnen. Er ist derzeit ein oft gesehener Gast im argentinischen Fernsehen. Aus seinen Machtambitionen macht er kein Hehl. Nicht ohne Grund. In einer von der Tageszeitung La Nación organisierten Umfrage ging in der letzten Woche die Mehrheit der Befragten davon aus, dass er wohl das Rennen machen würde, sollte es zu Neuwahlen kommen.