Die Documenta XI

Was die Kunst erzählt

Die Documenta ist Gedächtnis und Transformator.

Zusammen mit den Besucherinnen und Besuchern ziehen die Jahrtausende durch den zentralen Raum der Documenta im Kasseler Museum Fridericianum. Dort verlesen zwei Sprecher während eines 100 Tage dauernden Vortrags On Kawaras Verzeichnis »One Million Years« (Past and Future). Es enthält nicht mehr, als der Titel ankündigt: zwei Millionen Jahreszahlen. Die Documenta bremst sich hier erst einmal ab.

Wer sich auf der Suche nach der Malerei bis an diesen Ort vorgearbeitet hat, wägt ab, wie viel Zeit es braucht, um zur Malerei zu kommen und sich wieder von ihr zu entfernen. Kaum eine Frage scheint gleichwohl der Kunstkritik zu Beginn jeder Documenta mehr auf den Nägeln zu brennen als die nach dem Schicksal der Malerei. Auch der amerikanische Kritikerstar Peter Schjeldahl musste auf der Durchreise zur Großmesse Art Basel feststellen, dass die Malerei auf der diesjährigen Documenta rar ist. Stattdessen stießen ihm die »soft-core politics« der Ausstellung auf, die vorwaltende Bemühung, »alles Linksgerichtete sorgfältig zu dämpfen, solange es nicht harmlos bekloppt ist«.

Während die Documenta mit der Malerei ihr kunsthistorisches Gedächtnis verlieren würde, verliere die kommerzielle Kunstwelt beim Sommerschlussverkauf im Basler Malerladen ihren Verstand, schreibt er im New Yorker. Dabei leidet die Documenta überhaupt nicht unter Gedächtnisverlust. Ihr Gedächtnis erschöpft sich allerdings nicht in der Malerei - und es soll sich auch nicht in der Kunst erschöpfen. Verloren ist in jedem Fall die Orientierung an einer geradlinigen Kunstgeschichte. Das ist nichts überaus Neues. Was immer aber die Documenta sonst noch leistet, die Verallgemeinerung dieser Erkenntnis unter dem Gesichtspunkt der Dekolonisierung ist ihr Minimalangebot. Unter diesem Gesichtspunkt erweist sich eine Zeitordnung, unter der eine einheitliche Moderne verständlich ist (und mit ihr das souveräne Künstlerindividuum), als europäische Fiktion und als Sicherheitsvorkehrung, wie der künstlerische Leiter der Documenta 11, Okwui Enwezor, in seinem Essay im Katalog hervorhebt. Die Documenta verfolgt den Weg der Kunst, wo sie sich vom Zeitdiktat des Zentrums entfernt.

Gleich am Eingang ins Fridericianum aber setzt die Documenta dabei zwei deutliche Signale für ihr Verhältnis zur Malerei. Da ist zum einen das Werk der aus Israel stammenden und im Iran geborenen Chohreh Feyzdjou. Die später nach Paris emigrierte und dort 1996 gestorbene Künstlerin verpackte ihre Gemälde sorgfältig und versiegelt in Kisten und Aufbewahrungsgestellen. Es bleibt mit diesem Archiv ihrer Aufzeichnungen eine Sammlung unterschiedlicher Geschichten, eine zeitliche Pluralität, bereit für eine ungewisse Überfahrt.

Der Verhüllung des malerischen Ausdrucks entspricht auf der anderen Seite seine malerische Auslöschung in den Bildern Leon Golubs. In vergleichsweise existenzialistischer Strenge arbeitet der US-amerikanische Künstler seit über fünfzig Jahren an einem figurativen und dramatischen malerischen Realismus, wobei er seinen Bildern mit Metzgerbeilen und Säuren zu Leibe rückt. Seit den »Napalm Paintings« der sechziger Jahre beschäftigt er sich mit den Einwirkungen politischer Gewalt auf den Körper. Folter, Polizei, wütende Hunde sind auf ihnen zu erkennen. Was noch gesagt wird, ist als Befehl aufgestempelt: »Button Your Lip. We Can Disappear You!«

Hier werden zwar deutlich Grenzen der Malerei markiert, aber der zum Schweigen gebrachte malerische Ausdruck hinterlässt Spuren. Aus ihnen lässt sich eine Erzählung seines Schicksals rekonstruieren. Dieses Vermögen der Kunst, Spuren zu verfolgen und Erfahrungen zu organisieren, steht im Mittelpunkt der Documenta 11. Sie legt den Akzent auf die Fähigkeit der Kunst zu erzählen. Was sie präsentiert, gewinnt seine Erfahrbarkeit vorrangig in der Zeit und weniger im Bildraum.

Das zeigt sich auch an der starken Beachtung von Film und Video in Kassel. Eyal Sivans schon 1996 entstandener Film »Itsembasema - Rwanda, One Genocide Later« gehört dabei zu den eindrücklichsten Arbeiten. Sivan wurde durch seinen Film »The Specialist« über den Eichmann-Prozess bekannt. »Itsembasema« zeigt die Orte des Völkermords in Ruanda, die Leichenhallen und leeren Häuser, unterlegt von Ausschnitten aus dem Programm des Radiosenders RTLM, in dem, unterbrochen von aktuellen Hits, mit flotten Sprüchen zum Genozid aufgerufen wurde. Das Projekt »Searching for My Mother's Number« der kroatischen Performancekünstlerin Sanja Ivekovic beansprucht das Publikum auf andere Weise. Ivekovics Mutter war wegen ihrer Verbindung zum jugoslawischen Widerstand in Auschwitz interniert. Die Künstlerin hat ein Büro eingerichtet, in dem die Besucher dazu aufgefordert werden, die Recherche der Häftlingsnummer ihrer 1988 verstorbenen Mutter zu verfolgen.

Projekte wie dieses schlagen öffentliche Räume vor, in denen die Kunst als Katalysator für die Produktion von Wissen wirken kann. Wenn man sich mit den einzelnen ausgestellten Arbeiten beschäftigt, erstaunt es kaum, dass sich mit dieser Öffnung der Kunst ein ausdrücklich ethischer Anspruch verbindet. Er bleibt aber abhängig vom Kampf um die öffentliche Sphäre gegen ihre private Vereinnahmung. »Der öffentliche Raum muss immer wieder neu affirmiert werden, seine Durchlässigkeit durch jeden Akt des Gehens, Wanderns und Umherstreifens neu energetisiert werden«, schreibt Sarat Maharaj im Katalog. So stellt sich die Frage, ob die Kunst mehr kann, als zu reagieren.

Zunächst öffnet sie Passagen für isolierte Erfahrungen. Schon die Vielzahl der vertretenen Gruppenarbeiten bezeugt das. Ihre Themenstellungen nehmen das Interesse der Documenta auf, die Kunst in ihrer »Transnationalität« zu zeigen. Das heißt in jedem Fall, auf einen Zustand der Entkolonialisierung zu reagieren, der gekennzeichnet ist von informellen Migrationsbewegungen und der gesteigerten Anstrengung, privilegierte Räume im Kernbereich der ehemaligen Kolonialmächte abzusichern. Die zeitlichen und räumlichen Distanzen, die die Documenta dadurch nach Kassel bringt, erscheinen zwar durch deren weltweite Auffächerung in verschiedene »Plattformen« zunächst merkwürdig abstrakt. Sie materialisieren sich aber wieder durch die performance der einzelnen Arbeiten.

Sei es die Produktion der Inuik-Filmgruppe Igloolik Isuma Productions, die Studie Andreas Siekmanns oder die Fotografie Rawi Agarwals, um nur einiges zu nennen: Einen wichtigen Bezugspunkt für die documenta bildet die Bestimmung des sozialen Raums durch die Arbeit. Ihre transformative Kraft betonen die Tische zum Arbeiten und Nachdenken des neodadaistischen Alchimisten Victor Grippo aus Argentinien oder Dieter Roths »Große Tischruine«. Dieter Roths Hinterlassenschaft, diese monströse Wucherung, scheint kurz davor zu sein, wie im Märchen »Der süße Brei« durch die Fenster des Ateliers zu quellen und den Außenraum mit einem Chaos zu überschwemmen, in dem kein vernünftiger Warentausch mehr möglich ist.

So wird ein Gedächtnis gebahnt durch Korrespondenzen, zum Beispiel zwischen dem legendären Film »Handsworth Songs« des britischen Black Audio Film Collective, den politischen Landschaftsgemälden des Argentiniers Fabian Marcaccio und Constants Architekturmodellen zu New Babylon, dieser plastischen Lebenskunst für einen Urbanismus nach der Abschaffung der Arbeit. Wenn die Documenta 11 eine Würde beanspruchen kann, dann liegt sie in solchen Korrespondenzen. Die Documenta funktioniert wie ein Transformator, der vielfältige Kräfte aufnimmt, ihre Affinitäten und Kollisionen testet und sie verstärkt wieder abgibt. Die Ablenkbarkeit, deren Erfahrung sie in ihrer Passage machen, kann ein Kriterium für die Stärke dieser Kräfte sein.