Streit über den Bombenangriff auf Gaza

Eine Tonne Desaster

Die israelische Öffentlichkeit streitet über den tödlichen Bombenangriff auf Scheich Shehade in Gaza, bei dem auch 15 Zivilisten getötet wurden.

Es war eine Fehlkalkulation, ein hundertprozentiger Fehler.« Mit erstaunlicher Offenheit kritisierte Israels Außenminister Shimon Peres in einem Interview mit dem Spiegel den israelischen Bombenangriff auf ein Wohngebiet in Gaza von Anfang vergangener Woche. Doch was genau war passiert? Sicher ist, dass der Pilot eines israelischen Kampfbombers vom Typ F16 den Befehl hatte, ein bestimmtes Haus in Gaza unter Feuer zu nehmen. Die zuvor ausgewählte Waffe war eine Ein-Tonnen-Lenkbombe. Sie traf genau ins anvisierte Ziel. Der Zweck des Angriffs war die gezielte Tötung von Scheich Salah Shehade, dem Chef der Izz-al-Din-al-Kassam-Brigaden, dem militärischen Arm der radikal-islamistischen Hamas. Dass dabei neben Shehade und seinem Leibwächter allerdings auch 15 Zivilisten ums Leben kamen, darunter mindestens neun Kinder, und über 150 Menschen teils schwer verletzt wurden, war wohl nicht beabsichtigt.

Der Imageschaden für Israel jedenfalls ist enorm. »Ich verurteile aufs Schärfste den Tod unschuldiger Zivilisten«, so der außenpolitische Koordinator der EU, Javier Solana. Das britische Außenamt verdammte den Angriff als »inakzeptabel und kontraproduktiv«. Die Repräsentantin der EU im Nahost-«Quartett«, die Dänin Margrethe Loj, verurteilte »jede militärische Aktion, die wahllos gegen Zivilisten in Wohngebieten gerichtet ist«. Deutschlands Außenminister Joseph Fischer erklärte, die Bundesregierung sei »entsetzt über die jüngste Eskalation der Gewalt im Nahen Osten. Sie bedauert zutiefst, dass bei der israelischen Aktion unschuldige Menschen, darunter vor allem auch Kinder, ums Leben gekommen sind.« Auch UN-Generalsekretär Kofi Annan kritisierte den Angriff scharf.

Doch auch von den USA, seinem engsten Verbündeten, musste Israel sich deutliche Worte anhören. US-Präsident George W. Bush sprach von einer »ungeschickten« Aktion, sein Sprecher Ari Fleischer ergänzte, angesichts des »Verlustes unschuldigen Lebens« trage »diese plumpe Aktion nicht zum Frieden« bei. Eine von Syrien im UN-Weltsicherheitsrat eingebrachte Resolution zur Verurteilung Israels wurde allerdings zunächst vertagt und schien keine großen Erfolgsaussichten zu besitzen, da US-Diplomaten den Entwurf als einseitig kritisierten.

Angesichts dieser Reaktionen scheint die schnelle Bewertung des Bombenangriffs durch Israels Premierminister Ariel Sharon als »voller Erfolg« reichlich fragwürdig.

Zwar muss man einer Person wie Salah Schehade keine Träne nachweinen. Gerade eine Woche war es her, dass ein Anschlag seiner Hamas-Killer in der Westbank acht Zivilisten das Leben kostete. Israel machte ihn für insgesamt über 200 Anschlagsopfer während der so genannten Al-Aqsa-Intifada verantwortlich und hatte die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) mehrfach aufgefordert, den Scheich festzusetzen und auszuliefern. Erst im Sommer 2000 war er im Rahmen einer Goodwill-Aktion vor den Verhandlungen von Camp David aus einem israelischen Gefängnis entlassen worden.

Doch auch in Israel hat man längst begriffen, dass es in diesem Krieg nicht nur um militärische Erfolge geht, sondern auch um PR-Schlachten. Neun von einer Ein-Tonnen-Bombe getötete Kinder stellen in dieser Hinsicht jedenfalls ein Desaster dar. Wenn die vielen zivilen Opfer von der politischen und militärischen Führung nicht gewollt waren, so stellt sich die Frage: Warum gab es sie?

Diese Frage wurde auch in der israelischen Presse intensiv diskutiert. Bemerkenswert ist dabei, dass der Angriff von der linken und liberalen Presse ebenso wie von konservativen Blättern scharf kritisiert wurde. Die Debatte kreiste dabei um zwei Punkte. Zum einen wurden die verwendeten Mittel in Frage gestellt. So kommentierte das Massenblatt Jedioth Achronot: »Nach zweitägigem Herumstottern kam die offizielle Version des Angriffs in Gaza zu Fall. Eine Bombe von einer Tonne Gewicht, die auf eines der dichtest besiedelten Gebiete der Welt abgeworfen wird, muss in der unmittelbaren Umgebung ihres Ziels unweigerlich Tod und Verderben säen. Wer diesen Angriff anordnete, wusste das, legte aber den Begriff der 'geringen Wahrscheinlichkeit' sehr extensiv aus.«

Ähnlich hieß es in der liberalen Ma'ariv: »Es ist schwer einzusehen, warum ein F16-Bomber für diese Aufgabe eingesetzt wurde und warum eine so schwere Bombe abgeworfen wurde, deren zerstörerische Wirkung bekannt ist.« Das Wort von der »geringen Wahrscheinlichkeit« bezieht sich auf die militärische Einschätzung, dass bei der schon seit längerem von der israelischen Armee (IDF) verfolgten Taktik der »gezielten Liquidierung« hoher palästinensischer Funktionäre immer das Risiko besteht, versehentlich Unbeteiligte zu treffen. Doch offensichtlich war in diesem Fall die Wahrscheinlichkeit sehr hoch.

Ersten Ergebnissen einer gemeinsamen Untersuchungskommission der IDF und des Geheimdienstes Shin Beth zufolge wurde die schwere Bombe gewählt, um das Gebäude, in dem sich Shehade aufhielt, so vollkommen zu zerstören, dass er keine Überlebenschance haben würde. Man habe hingegen nur geringe Schäden an den benachbarten Gebäuden erwartet und sei zudem davon ausgegangen, dass sie leer seien. Angesichts der dichten Bebauung und des nächtlichen Angriffszeitpunktes waren beide Annahmen offenbar nicht besonders realistisch.

Selbst der konservative israelische Präsident Moshe Katsav forderte die »politisch Verantwortlichen« auf, für den Tod unschuldiger Zivilisten geradezustehen. Doch wer ist verantwortlich? Klar scheint, dass ein derartiger Angriff nur mit ausdrücklicher Genehmigung der politischen Führung stattfinden konnte.

Außenminister Peres will vorher nichts gewusst haben, er bezeichnete den Angriff als »Tragödie«, bekräftigte aber seine Absicht, in der Regierung zu bleiben. Verteidigungsminister Benjamin Ben-Eliezer soll telefonisch seine Zustimmung erklärt haben. Genau wie Ben-Eliezer drückte auch Sharon sein Bedauern über die zivilen Opfer aus. Trotzdem scheinen die verschiedenen Überlegungen, dass es sich um einen Geheimdienstfehler oder um militärische Fehleinschätzungen gehandelt hat, nicht zu überzeugen.

Aus den IDF hieß es, man habe Shehade bereits achtmal im Visier gehabt, jedes Mal sei die Aktion gestoppt worden, weil nicht ausgeschlossen werden konnte, auch Zivilisten zu treffen. Weiter wurde lanciert, Shehade habe nach Geheimdienstinformationen einen gigantischen Anschlag mit einer Tonne Sprengstoff geplant. So kommt Jedioth Achronot zu dem Schluss, diesmal sei die »Versuchung sicher groß« gewesen - nämlich tote Zivilisten in Kauf zu nehmen.

Der zweite Punkt der Diskussion betrifft die Frage des Zeitpunktes. Denn hier hat offenbar die israelische Führung der PA und der Hamas die Gelegenheit zur Legendenbildung geliefert. Übereinstimmend beklagten Politiker der PA und der Hamas-Führer Scheich Ahmed Yassin, man habe 90 Minuten vor der Verkündung eines von EU-Unterhändlern vermittelten Stopps der Selbstmordanschläge auf Israelis gestanden, dem der Rückzug der IDF-Truppen aus den palästinensischen Bevölkerungszentren hätte folgen sollen.

Tatsächlich, das räumte auch Peres ein, gab es entsprechende Verhandlungen, die aber Peres zufolge noch lange nicht spruchreif waren. Offenbar handelte es sich zunächst um eine Initiative der Tanzim-Milizen, des militärischen Arms von Arafats Fatah-Bewegung. Ob und unter welchen Bedingungen die Hamas und der Islamische Jihad sich der Initiative angeschlossen hätten, ist zweifelhaft. So hieß es kurz vor dem Bombenangriff auf Gaza in verschiedenen Agenturmeldungen, Scheich Yassin »erwäge ein Ende der Selbstmordanschläge, wenn Israel sich aus den Städten im Westjordanland zurückziehe und weitere Bedingungen erfülle«.

So erinnert die Diskussion an die Unzahl gescheiterter Waffenstillstandsbemühungen der letzten Monate, bei denen es immer wieder um die Frage der Reihenfolge von Gewaltverzicht und Rückzug ging. Dass Yassin mit den »weiteren Bedingungen« vermutlich die Entlassung palästinensischer Gefangener meinte, ist angesichts der Biographie des getöteten Schehade nur noch eine Ironie am Rande.