Ein Jahr nach dem 11. September

Schwarzer September

Die Anschläge auf die Twin Towers werden als überzeitliche Katastrophe interpretiert. Aber das Desaster von heute entspringt immer der Normalität von gestern und verrät einiges über sie.

Der Standardkommentar zum 11. September begann und beginnt mit dem Satz, die Welt sei nicht mehr dieselbe wie vor dem Anschlag. Diese Lieblingsphrase aller Besinnungsaufsatzschreiber ist genauso ideologisch wie überstrapaziert. Individuen kann es widerfahren, dass Schicksalsschläge von einem Moment auf den anderen und ohne Vorankündigung die ganze persönliche Existenz verändern.

Die kollektive Geschichte dagegen kennt seit dem Meteoriteneinschlag, der vor vielen Millionen Jahren zum großen Sauriersterben geführt haben soll, nichts Vergleichbares. Sämtliche Katastrophen jedenfalls, die der Warengesellschaft auf ihrem Weg zugestoßen sind, hat sie selber gründlich vorbereitet. Das Desaster von heute entspringt stets der Normalität von gestern und verrät einiges über sie. Sehen sich Zeitzeugen angesichts einer gesellschaftlichen Katastrophe schlagartig in eine andere, grauenhafte Welt versetzt, dann hatten sie offenbar fragwürdige Vorstellungen von der Welt, in der sie bis dato lebten und in der sie immer noch leben.

Der historische Realprozess macht keine Sprünge; die gibt es nur im Reich der Weltdeutung und der Ideologie. Die Risiken der Atomenergie waren jedem, der sie kennen wollte, auch vor Tschernobyl vertraut. Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, der Erste Weltkrieg, hatte sich schon lange vorher zusammengebraut. Nur wer an das Phantasma der zivilisierenden und befriedenden Leistung der abendländischen Kultur glaubte, konnte 1914 aus allen Wolken fallen.

Die totale Weltmarktgesellschaft, wie sie sich in den achtziger und neunziger Jahren formierte, trieb nicht nur alle der Warengesellschaft inhärenten Widersprüche auf die Spitze, sondern auch deren Fähigkeit, sie zu leugnen und die Differenz zwischen realer Entwicklung und ihrer ideologischen Darstellungsform scheinbar einzuebnen. Die Sprecher des siegreichen Westens halluzinierten sich im Zeitalter von Simulation und autistischer Traumtänzerei eine Zukunftsperspektive von allgemeinem Wohlstand und Frieden im Zeichen des totalen Marktes zurecht, in der die von den Segnungen einer entfesselten Weltwarengesellschaft ausgeschlossenen Individuen und Weltregionen nur noch als vernachlässigbare Randstörung vorkamen.

Etwa mit der Jahrtausendwende hat freilich eine Phase begonnen, in der sich all diese hoffnungsfrohen Erwartungen blamieren. Der Crash auf Raten der New Economy macht nach und nach sichtbar, dass auch für das kapitalistische Zentrum der wirtschaftliche Boom auf einer höchst prekären Grundlage beruhte. Der 11. September hat mit einem Schlag und so symbolträchtig wie nur möglich gezeigt: Globalisierung reimt sich selbst für das Allerheiligste der Weltwarengesellschaft nicht auf Frieden. Auch der Westen ist höchst verwundbar.

Das auf totale Konkurrenz konditionierte Subjekt verkaufen die Apologeten des entfesselten Marktes als Garanten von friedlichem Interessenausgleich und als den Inbegriff von Vernunft. Für die auf Selbstinstrumentalisierung und Selbstunterwerfung geeichte postmoderne Ich-AG ist es aber nur ein kleiner Schritt von den Pfaden des homo oeconomicus zu anderen Formen der Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung. Die gleiche Sorte männlicher Sozialisation prädestiniert für eine Laufbahn als »Selbstunternehmer« wie für die Amokläuferkarriere. Die Urheimat des seiner selbst überdrüssigen Warensubjekts heißt Armageddon, und das Ziel seiner kollektiven Lust-Angst-Träume hat schon lange fatale Ähnlichkeit mit dem ground zero.

Mit einem vorbildlosen, aus heiterem Himmel kommenden Trauma hat das Horrorszenario des 11. September nicht die geringste Ähnlichkeit. Bevor tatsächlich entführte Passagierflugzeuge in die Türme des World Trade Center und ins Pentagon rasten, wurde dieses Geschehen bekanntlich schon einige tausend Mal in Computerspielen und Filmen virtuell durchgespielt.

Dass sich die Selbstmordattentäter als Islamisten verstanden und die Pässe arabischer Länder besaßen, und keine fernöstliche Weltuntergangssekte oder US-amerikanische Rechtsextreme vom Typus des Oklahoma-Attentäters McVeigh zum Amokflug ansetzten, war wohl Zufall; von der Wahl des Anschlagziels und der Vorgehensweise lässt sich das nicht sagen. Beides entstammt dem Kernbestand jener kollektiven Gewaltphantasien, die das an sich selber verzweifelte Konkurrenz- und Selbstbehauptungssubjekt der späten neunziger Jahre umtreiben.

Angesichts der weltweiten Privatisierungs- und Entstaatlichungsprozesse, das schien den Marktapologeten ausgemacht, braucht das kapitalistische Zentrum künftig weder mit ernsthaften politischen Gegenspielern zu rechnen noch mit einer nennenswerten militärischen Herausforderung. Stattdessen bleibt es der westlichen Vormacht und ihren Hilfssheriffs überlassen, nach Gutdünken als Weltpolizist und Inhaber des Gewaltmonopols für (ihre) Ordnung zu sorgen.

Gewalt und Krieg sind aber keineswegs verschwunden; vielmehr unterliegen sie im allgemeinen Entstaatlichungs- und Privatisierungsprozess einer brisanten Metamorphose. An die Stelle des vertrauten nationalstaatlichen Gewaltmonopols treten viele poststaatlich organisierte Gewaltpole.

Bis zum 11. September 2001 ließ sich diese Entwicklung noch als ein lediglich die peripheren Weltmarktregionen betreffendes Problem wegschieben. Die Bilder der einstürzenden Twin Towers lehrten aber unmissverständlich etwas anderes. Jedem potenziell feindlichen Nationalstaat mag der Westen übermächtig gegenüberstehen, die Konfrontation mit neuen entterritorialisierten Gewaltnetzen hingegen droht für die gigantomanischen militärischen Apparate zum Hase-und-Igel-Spiel zu werden. Die Rede von der Weltinnenpolitik, die bislang den absoluten Machtanspruch des Westens bemäntelte, gewinnt eine neue, für den Westen selbst unheilschwangere Bedeutung. Die neuen Barbaren bedrohen das Reich nicht von außen, sondern immer schon von innen. Sie lassen sich kaum aus dem Humanmaterial, nach dem der moderne Kapitalismus lechzt, heraus selektieren, denn sie gleichen ihm aufs Haar.

Der Terrorschock markiert einen Einschnitt im Zeitalter der Simulation und Verleugnung, aber nicht dessen Ende. Der Westen halluziniert sich nicht mehr als unverwundbar, er begnügt sich damit, die Bedrohung zur exterritorialen umzuphantasieren. Weil die Antiterrorkämpfer weder Hamburg-Harburg noch die eine oder andere US-amerikanische Kleinstadt bombardieren wollen, definieren sie »Terrorzentralen«, die besser zur Free-Fire-Zone taugen. Um ein transnationales Terrornetz zu zerreißen, war der ganze Afghanistan-Feldzug von vornherein ungeeignet.

Ob Fehlschlag oder nicht wird aber fürs erste ziemlich gleichgültig, wenn die Krieg führende Macht die Erfolgsmeldungen selbst produziert und das werte Publikum zu sehen bekommt, was es sehen möchte. Die Fahne der Menschenrechte weht über dem Hindukusch, und Fernsehbilder, die eine Handvoll Mädchen beim Schulbesuch zeigen, tun es zur Not auch, solange mit bin Ladens Leiche noch immer nicht aufzuwarten ist.

Die rituellen militärischen Verrichtungen sind nur Begleitmusik für Verschiebungen im Reich der Ideologie. Gerade auf diesem Gebiet bewährt sich die Transformation der Bedrohung zu einer fremden Macht als Hauptaufgabe. Unter dem Vorzeichen der Sicherheitspolitik kippt der bis dato offiziell ach so weltoffene Westen in Richtung Paranoia ab und nähert sich pikanterweise ideologisch sukzessive seinem Gegner an.

Im neuen antiislamistischen Menschenrechtskriegertum beginnen offener Rassismus und der Kampf für die Werte der Aufklärung unmittelbar zusammenzufallen. Natürlich beteuert hierzulande jede Talk-Runde einträchtig, der Kampf gegen die islamistischen Extremisten habe nicht das Geringste mit irgendwelchen Ressentiments gegen Mitbürger islamischen Glaubens zu tun. Solche gebetsmühlenhaften Beteuerungen dokumentieren aber eher das Gegenteil dessen, was sie behaupten. Der clash of civilisations ist auf dem besten Weg zum hegemonialen Interpretationsmuster.

Die radikale Linke hat angesichts dieses Umschwungs versagt. Die antiimperialistische Linke weigert sich konsequent, überhaupt die veränderte Konstellation wahrzunehmen. Völlig blödsinnig geworden, schwadroniert sie im Zeitalter des Ausgrenzungs- und Sicherheitsimperialismus permanent von irgendwelchen Ölpipelines, um sich in das vertraute Bezugssystem des klassischen Interessenimperialismus des 19. Jahrhunderts zurückphantasieren zu können.

Erhebliche Teile des antideutschen Spektrums wiederum sind Bestandteil des gesellschaftlichen Mainstreams geworden, den sie gestern noch zu kritisieren meinten, und mutieren zu einer Art Huntington-Linken. Die Abgrenzung vom spezifischen Autismus des antiimperialistischen Lagers genügt ihnen als Begründung, um sich den Menschrechtskriegern anzuschließen und mit amerikanischen Fähnchen zu wedeln. Vor den von der westlichen Zivilisation selber geschaffenen Zombies suchen sie ausgerechnet bei den westlichen Werten Zuflucht. Die Selbstmarginalisierung der Linken ist damit in eine neue Phase getreten.