Krise in Lateinamerika

Vorsicht, Infektionsgefahr!

Das sollte nach dem Willen des IWF gerade vermieden werden: Dass sich die Krise in Lateinamerika nach dem Absturz Argentiniens ausbreitet und andere Länder in Mitleidenschaft zieht. Deshalb hatte er Brasilien im Dezember einen milliardenschweren Kredit in Aussicht gestellt, während der argentinische Staat trotz des Crashs leer ausging.

Doch erstens kommt es anders und zweitens als man denkt; das gilt nicht zuletzt für die Krisenmanager in den internationalen Finanzinstitutionen. Ein halbes Jahr nach ihrem frommen Wunsch, das Desaster möge sich auf Argentinien beschränken lassen, ist nur noch von Ansteckung die Rede.

In der vergangenen Woche erwischte es Uruguay, dessen Finanzsystem und Tourismusindustrie von Argentinien abhängen. Dort schloss die Regierung am Dienstag die Banken, um die verheerende Kapitalflucht einzudämmen. Nach argentinischem Muster sollen nun zahlreiche Konten bei staatlichen Banken gesperrt werden. Wirtschaftsminister Alejandro Atchugarry hofft auf einen kurzfristigen US-Kredit in Höhe von 1,5 Milliarden Dollar und verhandelt verbissen mit dem IWF um weitere Finanzhilfen.

In Uruguay, das nach dem Ende der Militärdiktatur 1985 lange Zeit als eine der stabilsten Nationalökonomien Lateinamerikas galt, grassiert nun der Hunger. In der vergangenen Woche wurden die ersten Supermärkte in Montevideo geplündert. Am Freitag patrouillierten 5 000 Polizisten durch die Straßen der Hauptstadt, während der Innenminister die Entdeckung einer bislang völlig unbekannten, aber dafür umso mächtigeren subversiven und ultralinken Organisation bekanntgab, die für die Plünderungen verantwortlich sei. Wie in Argentinien steht auch in Uruguay die Mittelklasse vor dem Ruin. Das polit-ökonomische Modell, das sich in den letzten beiden Jahrzehnten durchgesetzt hat, frisst seine Kinder und seine innere Dynamik stellt mittlerweile seine Funktionsfähigkeit in Frage.

Weit gewichtiger noch ist die schleichende Krise in Brasilien, dem wirtschaftlichen Giganten unter den lateinamerikanischen Ländern. Die brasilianische Währung, der Real, hat allein im Juli rund 15 Prozent seines Wertes gegenüber dem Dollar eingebüßt. In der vergangenen Woche sandte der brasilianische Staat in einem Anfall von Panik ein Verhandlungsteam zum IWF, um dem Fonds weitere Finanzhilfen zu entlocken. Was dabei herauskommt, steht angesichts der Zurückhaltung des IWF bei weiteren Kreditvergaben in den Sternen.

Es droht ein Crash à l'Argentine, wenn der Real weiter abstürzt und die staatlichen Schulden - zum großen Teil an den Dollar gebunden - dann überproportional anwachsen. Und so ließ sich am Sonntag in der New York Times die Schlagzeile bewundern: »Brasilien schwankt. Wird es ansteckend sein?« Die Ansteckungsgefahr bedrohte diesmal schon die gesamte Weltökonomie.

Noch düsterere Aussichten für Lateinamerika beschreibt bereits die NZZ: »Nicht nur in der Region selbst, sondern auch bei außenstehenden Beobachtern machen sich Orientierungs- und Hoffnungslosigkeit breit. Es fehlen sowohl die Rezepte zur nachhaltigen Überwindung der gegenwärtigen Krise als auch die Strukturen zu ihrer Umsetzung. Die Gefahr, dass Südamerika - ähnlich wie Afrika - zum hoffnungslosen Fall verkommt, ist heute leider sehr real.«

Afrika abgeschrieben, das »asiatische Jahrhundert« nach dem Crash vom Ende der neunziger Jahre ausgefallen, Lateinamerika ein hoffnungsloser Fall und »Orientierungs- und Hoffnungslosigkeit« bei den berüchtigten Experten in Sachen kapitalistischer Prosperität. Eine weitere autoritäre Epoche kapitalistischer Krisenverwaltung deutet sich damit an, sollte sich nicht eine andere »Krankheit« als ansteckender erweisen: die theoretische und praktische Gesellschaftskritik.