Gefangenenbefreiung

Mehr als ein Ausbruch

Nach dem Sturm auf das Gefängnis der Regionalhauptstadt Gonaïves brennen im Norden Haitis die Barrikaden.

Die Befreier der Gefangenen waren als einfache Bauern getarnt. Mit einem Traktor brachten die bewaffneten Männer die Mauern des Gefängnisses der haitianischen Regionalhauptstadt Gonaïves zum Einsturz. 159 der 219 Gefangenen nutzten die Lücke im Bollwerk, die sich für einige wohl nicht überraschend auftat, und verschwanden. Ein Häftling wurde während der Massenflucht erschossen. Nur wenig später brannten das Polizeikommissariat und das Bürgermeisteramt der Stadt, die 200 000 Einwohner zählt und nordwestlich der Hauptstadt Port-au-Prince liegt. Hinter brennenden Straßensperren aus Abfall und Altreifen skandierten vor laufenden Kameras vermummte Ex-Häftlinge und Jugendliche: »Nieder mit Aristide! Freiheit oder Tod!«

Es schien, als habe die arme Bevölkerung Haitis endgültig dem einst als »Titid« vergötterten Staatspräsidenten Jean-Bertrand Aristide die Freundschaft und Gefolgschaft aufgekündigt. Die Bevölkerung, so kommentierte es die dominikanische Tageszeitung El Caribe, mache den ehemaligen Armenpriester für ihre nicht enden wollende Armut verantwortlich. Nach wie vor ist Haiti mit einem Jahreseinkommen von rund 250 US-Dollar pro Kopf das ärmste Land Lateinamerikas.

Da passte der linke Aktivist der Organisations Populaires (OP, Volksorganisationen) Amoit Métayer alias »Cubain« ins Bild. Er beklagte wenige Stunden nach seiner Befreiung aus dem Knast im haitianischen Hauptstadtsender Radio Metropole, dass Aristide das Volk verraten habe. Pathetisch rief er die Bevölkerung auf, die Regierung zu bekämpfen und zu stürzen.

An Métayers Seite befand sich sein ehemaliger Knastkumpel und neuer Kampfgefährte Jean Tatoune. Der ehemalige Offizier hatte sich im April 1994 während der Militärdiktatur von Raul Cedras an einem Massaker an Bauern der Region beteiligt und war dafür später zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Beide haben sich an die Spitze einer so genannten Armee der Kannibalen gesetzt, die die Regierung Aristide stürzen will. Tatoune behauptete gar: »Das Volk hat die Macht in Gonaïves übernommen.«

Die Realität sieht ein wenig anders aus, auch wenn die Situation in der Region mehr als angespannt ist. Ende der vergangenen Woche wurden in weiteren Städten der Nordregion Straßensperren von Protestierenden errichtet, die Hauptdurchfahrtsstraße N1 in den Norden des Landes wurde von Demonstranten blockiert. Und Tausende beteiligen sich an den Protesten gegen den Präsidenten.

Viel schwerer als Straßensperren und brennende Autoreifen wiegt allerdings, dass hinter der Befreiungsaktion und dem Aufstand sowohl Mitglieder der linken Organisations Populaires stecken, die einstmals mit der Partei Aristides, der Fanmi Lavalas (Lavalas-Familie) verbündet waren, als auch rechte ehemalige Militärkreise, die seit Monaten versuchen, das Land zu destabilisieren. Mit Métayer und Jean Tatoune gelang rund 40 ehemaligen Militärs, die zum Teil zu langjährigen Haftstrafen verurteilt waren, die Flucht.

Mit dem Coup verhalfen die Mitglieder der OP einem ihrer wichtigsten Leute wieder zur Freiheit. Métayer, ein ehemaliges Mitglied der Fanmi Lavalas, saß seit dem Juli dieses Jahres hinter Gittern, weil er mehrere Brandanschläge und Aktionen gegen Oppositionelle der Convergence Démocratique (Demokratische Übereinkunft) geleitet haben soll. Seit die von der Fanmi Lavalas gestellte Regierung, nicht zuletzt unter dem Druck des Auslandes, gegen radikale Gegner der bürgerlichen Opposition vorgeht, haben Teile der Linken der Fanmi Lavalas und Aristide die Unterstützung gekündigt und den Kampf angesagt. Und dafür haben sie sich anscheinend mit ihren einstigen Feinden verbündet.

Aus Washington und aus der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) kommen nun Aufforderungen, dem aufrührerischen Treiben in Gonaïves ein Ende zu bereiten und die »Ordnung wieder herzustellen«; sie kommen just in dem Moment, in dem Aristide einen Sonderbevollmächtigten in die Departmentshauptstadt geschickt hat, um mit den Aufrührern zu verhandeln. Jose Ulysse hat mittlerweile mehrmals versucht, mit den Anführern der »Kannibalen« zu sprechen und einen friedlichen Ausweg aus der Krise zu finden: »Zwei Tage lang haben wir mit den verschiedenen Fraktionen in den unterschiedlichen Gemeinden gesprochen, uns ihre Forderungen angehört und nach Möglichkeiten gesucht, wie wir diesen nachkommen können.«

Der Aufstand von Gonaïves konnte für Staatspräsident Aristide nicht ungünstiger kommen. Seit Monaten bedrängen die OAS und der Geschäftsträger der USA die Regierung, der Forderung der Opposition nachzukommen und Neuwahlen anzuberaumen.

Seit der Präsidentschaftswahl im November 2000, an der sich die Opposition, wie sie erklärte, »wegen Manipulationen bei den vorangegangenen Senatswahlen« nicht beteiligte, ist das Land isoliert. Rund eine halbe Milliarde Euro Entwicklungsgelder wurden seitdem einbehalten. Nationale und internationale Organisationen machen Mitglieder der Fanmi Lavalas und die mit ihr assoziierten Gruppen für gewalttätige Übergriffe auf die Oppositionsparteien und -gruppen verantwortlich, die in der Convergence Démocratique zusammengeschlossen sind.

Im Dezember des vergangenen Jahres verschärfte sich die Krise noch. Ehemalige Militär- und Polizeimitglieder scheiterten bei dem Versuch, den Präsidentenpalast in ihre Gewalt zu bringen und Aristide abzusetzen. Parteilokale der Convergence Démocratique wurden daraufhin angegriffen und in Brand gesetzt, mehrere Tote waren zu beklagen. Das Oppositionsbündnis macht Mitglieder und Sympathisanten der Fanmi Lavalas dafür verantwortlich. Die Regierung hingegen beschuldigte »Gesetzlose und Banditen«, hinter den Überfällen zu stecken.

Mehrere Putschisten retteten sich in die benachbarte Dominikanische Republik und führen dort unter Aufsicht des Militärs ein nicht gerade ärmliches Leben. Es sind aber immer noch die Stimmen jener zu vernehmen, die den Angriff auf den Präsidentenpalast in Port-au-Prince als einen von Aristide selbst inszenierten Putsch bezeichneten, um eine Legitimation zu finden, die Opposition mundtot zu machen.

Den ausländischen Mahnungen und den Forderungen der OAS kam »Titid« im Juni nach, indem er sich zu direkten Gesprächen mit den Vertretern der Convergence Démocratique traf und Zugeständnisse ankündigte. Noch in diesem Jahr, so Aristides Vorschlag, sollten Parlamentswahlen stattfinden. Ein geschickter Schachzug des ehemaligen Armenpriesters, dem auch wohl gesonnene Beobachter nachsagen, dass er den Kontakt zur Bevölkerung verloren habe.

Denn seit dieser Ankündigung Aristides, der von einem Heer von Leibwächtern aus den USA umgeben ist, droht das Oppositionsbündnis auseinanderzubrechen. Während moderate Kräfte auf den Vorschlag eingehen wollten, verlangten Hardliner den Rücktritt des Präsidenten. In diese Front haben sich die Anführer der »Kannibalenarmee« von Gonaïves eingereiht und Aristide erneut in die Zwickmühle gebracht.