Die Vertriebenenpolitik

Wo ist das Volk?

Die Parteinahme für Volksgruppen ist eine beliebte Strategie, um deutsche Machtinteressen durchzusetzen.

Die Bundesregierung ist dazu verpflichtet, »das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in dem Bewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu erhalten«. So steht es in Paragraf 96 des Bundesvertriebenengesetzes, der Grundlage deutscher Volkstumspolitik, die auch von Rot-Grün nicht angetastet wurde.

Die Öffnung Osteuropas ging mit einer beispiellosen Intensivierung der deutschen Volksgruppen- und Vertriebenenpolitik einher. Der Bund der Vertriebenen (BdV) stellt mit Genugtuung fest, dass es nach dem Ende des Realsozialismus im Jahr 1989 möglich wurde, dieses »Kulturgut« dort, wo es entstanden ist, wieder zu beleben. Unter Rot-Grün ist dieser Tätigkeitsbereich vom Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, der zurzeit Julian Nida-Rümelin heißt, übernommen worden.

Geändert haben sich seit Schröders Regierungsantritt zwar nicht die Ziele und Methoden, wohl aber die äußere Erscheinung einzelner Institutionen. Sie wurden auf modern und unverfänglich getrimmt. So heißt etwa das Bundesinstitut für ostdeutsche Kultur und Geschichte, das sein Forschungsfeld jenseits der Oder-Neiße-Grenze sieht, jetzt Bundesinstitut für die Geschichte und Kultur der Deutschen im östlichen Europa. Auch wurde die finanzielle Unterstützung des BdV und der »volksdeutschen« Landsmannschaften keineswegs gekürzt. Beispielsweise waren die Fördergelder für Projekte der Sudetendeutschen Landsmannschaft im Jahr 2001 doppelt so hoch wie im Jahr des Regierungswechsels 1998.

Nach wie vor fließen bedeutende Beiträge des Bundeshaushaltes in die Entwicklung und Förderung eines europäischen »Volksgruppen- und Minderheitenrechts«, mit dem Deutschland versucht, Einfluss auf die Gesetzgebung und Politik anderer Staaten zu nehmen. Diverse Organisationen gehen den deutsche Ministerien dabei zur Hand. Zuständig für die Steuerung, Koordination und Finanzierung dieser Einrichtungen sind das Auswärtige Amt, das Bundesinnenministerium und die Landesregierungen.

Im Hintergrund arbeitet zum Beispiel die Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen (FUEV) mit Sitz in Flensburg für ein international anerkanntes Volksgruppenrecht. Diese bereits 1949 gegründete Organisation betrachtet sich als Nachfolgerin des in den zwanziger Jahren unter deutscher Führung entstandenen Europäischen Nationalitätenkongresses, der die Revision jener europäischen Grenzen propagierte, die auf den Friedenskonferenzen nach dem Ersten Weltkrieg festgelegt wurden. Den Generalsekretär der FUEV bezahlt das Land Schleswig-Holstein, weitere Beträge überweist das Bundesministerium des Innern. Die FUEV zählt 84 Mitgliedsorganisationen, von denen einige in ihren Staaten als separatistisch gelten. Von den meisten Nachbarstaaten Deutschlands fordert die FUEV »Volksgruppenschutz durch Autonomie« für die von ihr entdeckten vermeintlichen ethnischen Minderheiten, insgesamt sind es 283 an der Zahl.

Ihr zur Seite, ebenfalls mit Sitz in Flensburg, stellte die Regierung Kohl im Dezember 1996 das Europäische Zentrum für Minderheitenfragen (EZM). Dessen Leitung sieht eine wesentliche Aufgabe darin, im Falle ethnopolitischer Konflikte, bei denen »die Gewaltschwelle überschritten ist«, als Schiedsrichter zu fungieren und Treffen der Kontrahenten auf »neutralem Boden« zu veranstalten. Unter anderem auf diesem Weg versucht die Berliner Außenpolitik, Einfluss auf das Handeln und die Gesetzgebung der Nachbarstaaten zu gewinnen. Die Kriege in Jugoslawien haben klar vor Augen geführt, dass ökonomische, soziale und politische Widersprüche ethnisiert werden können. Diese mit der Rhetorik so genannter Volksgruppen und Minderheiten verknüpfte Strategie ist eine traditionelle Spezialität der deutschen Außenpolitik.

Im rot-grünen Gewand bildet sie die Grundlage für die deutschen Vorschläge zur Reform des Völkerrechts. Mit den individuellen Menschenrechten der Moderne haben diese am Kollektiv der imaginären Volksgruppe orientierten Pläne nicht das Geringste zu tun. Mittels der Internationalisierung der Minderheitenfrage eröffnen sich jedoch - je nach Bedarf - Optionen für die Wahrnehmung deutscher Interessen und der Ansprüche der Vertriebenenverbände.

Das EZM versucht in der Zusammenarbeit mit anderen Staaten nach eigener Darstellung, »das jeweilige nationale Verständnis des Minderheitenbegriffs zu erörtern«. Nach außen als europäische Institution auftretend, wird das EZM aus Mitteln der revanchistischen Niermann-Stiftung und zu 23 Prozent aus dem Haushalt der rot-grünen Landesregierung Schleswig-Holsteins finanziert.

In der traditionellen Volksgruppenarbeit für ethnische Identität (Blut) und die Rückeroberung des Siedlungsgebiets (Boden) finden im EZM nicht nur die Volksparteien zueinander und stellen ihre sonstigen Unterschiede zurück, auch die Grünen Schleswig-Holsteins wirken eifrig mit. Den Anknüpfungspunkt bildet das diffuse Rechtsempfinden, die Deutschen müssten den Schwachen und Armen, den Minderheiten und »unterdrückten Völkern« der Welt zu Hilfe kommen - den Iren und Basken, den Palästinensern, Albanern, Tibetern, Kurden oder Tschetschenen.

Und mittels eines internationalen »Selbstbestimmungs- bzw. Volksgruppenrechts« könnte langfristig darauf hingewirkt werden, eine territoriale Autonomie für »Volksdeutsche« in Osteuropa zu erreichen. Deren Zahl wird heute auf zwei Millionen geschätzt (davon 800 000 in Russland, 400 000 in Polen und 350 000 in Kasachstan).

Expertisen zum »Recht auf Heimat« oder zum Minderheitenrecht werden seit Jahren vom Think Tank der deutschen Landsmannschaften, der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht in der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, angefertigt. Zu ihren Mitgliedern gehören etablierte Universitätsprofessoren für »Ostrecht« und Völkerrecht wie Georg Brunner in Köln und Dieter Blumenwitz in Würzburg. Größere Publizität gewannen die Papiere dieser Herren im Zuge des Kosovo-Krieges, als nicht das »Recht auf Zuflucht«, sondern das »Recht auf Heimat« die Diskussion bestimmte. In diesem Kontext war es ein Leichtes, den Bogen zu den deutschen Vertriebenen zu schlagen und darauf hinzuweisen, dass auch deren »Recht auf Rückkehr« noch nicht verwirklicht sei.

Konflikte zwischen Rot-Grün und den Vertriebenenverbänden entstehen hauptsächlich in Fragen von Stil und Verpackung. Joschka Fischer will eben nicht zu den ewig Gestrigen gehören, sondern zu den Gewinnern von morgen auf internationalem Parkett. Dort sind Vorschläge zur Innovation der Minderheiten-, Völker- und Menschenrechte eher möglich als eine offene Propaganda gegen die Politik der Alliierten und der osteuropäischen Regierungen nach dem Sieg über den Nationalsozialismus.

Doch selbst in der Wortwahl nähern sich rot-grüne Politiker und Vertriebenenfunktionäre immer mehr an. Während letztere jetzt schon einmal statt von einer Volksgruppe von einer Ethnie oder Minderheit sprechen, entdecken die ehemaligen Spontis das »Recht auf Heimat«. Und den vom BdV lancierten Vorschlag eines internationalen Zentrums gegen Vertreibung mit Sitz in Berlin finden Schily & Co. innovativ, auch wenn Bundeskanzler Schröder in der vergangenen Woche Bedenken angemeldet hat.